Wo steht Deutschland 75 Jahre nach Schaffung des Grundgesetzes und 35 Jahre nach dem Mauerfall? Darüber macht sich der Bundespräsident nun in einem Buch Gedanken.
Neues BuchBundespräsident Frank-Walter Steinmeier wirbt für neuen Patriotismus
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Deutschen dazu aufgerufen, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gegen die zahlreichen aktuellen Krisen anzugehen. „Wir müssen es mit unserem „Schicksal“ aufnehmen“, schreibt Steinmeier in seinem Buch „Wir“, das er am Mittwoch im Schloss Bellevue in Berlin vorstellte.
Niemand wisse, wo man in zehn Jahren stehen werde. „Aber wir wissen, was Deutschland sein kann: ein Land, das unter Belastungen gestanden und seinen Weg gefunden hat.“ Steinmeier plädiert für mehr Miteinander von Regierung und Opposition in zentralen Fragen, für eine Staatsreform und für einen neuen, nachdenklichen und nicht überheblichen Patriotismus - einen „Patriotismus der leisen Töne“.
Steinmeiers Essay erscheint zum politischen Doppeljubiläum Deutschlands
Steinmeiers langes Essay erscheint zum politischen Doppeljubiläum Deutschlands in diesem Jahr: Vor 75 Jahren trat in der Bundesrepublik das Grundgesetz in Kraft, vor 35 Jahren rissen die Menschen in Ostdeutschland die Mauer nieder. Der Bundespräsident plädierte am Mittwoch - so wie auch in seinem Buch - dafür, beides als gesamtdeutsche Ereignisse zu sehen, die die Menschen in West und Ost nicht isoliert beträfen.
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Er würde nicht behaupten, dass sich die Menschen in der DDR 1989/90 nach dem Grundgesetz gesehnt hätten, sagte Steinmeier bei der Buchvorstellung. „Aber mindestens haben sie sich gesehnt und gefordert, mit den gleichen Rechten ausgestattet zu werden, die die Westdeutschen schon einige Jahrzehnte hatten.“ Das sei damals zunächst noch ein Traum gewesen. „Dass dieser Traum in Erfüllung gegangen ist, dass die Freiheiten des Grundgesetzes seit 1990 für alle Deutschen gelten, das ist wirklich ein Grund zum Feiern.“
Bundespräsident: Friedliche Revolution war ein „Höhepunkt unserer Demokratisierung“
Zugleich gelte aber, dass die Verwirklichung unserer Freiheitsverfassung nicht nur an Orten wie Herrenchiemsee und Bonn, sondern auch auf der Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin, in Plauen und in Leipzig gespielt habe. „Die Friedliche Revolution war ein unverzichtbarer Teil, ja, ich denke, ein Höhepunkt unserer Demokratisierung“, schreibt Steinmeier in seinem Buch.
Er entwirft darin das Bild eines Landes, das infolge zahlreicher Krisen wie der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine, dem Nahost-Konflikt, hoher Inflation und unsicheren ökonomischen Aussichten eine tiefe Verunsicherung erlebt, in dem sich Verzagtheit breit macht, das eine „Gesellschaft im Krisenstress“ hat. Ein Land mit einer angegriffenen liberalen Demokratie, in dem die Grenzen des Sagbaren zum Unsäglichen hin verschoben wurden, sodass sich die gesellschaftliche Debatte verschärft hat, das sich in einer „Erregungsspirale“ mit „Wutwellen der digitalen Medien“ befindet.
Bundespräsident wirbt für „Brückenschlag“ zwischen Regierung und Opposition
„Wir sind keine „gespaltene“, keine „polarisierte“ oder „zerbrochene Gesellschaft“. Aber wir sind ein emotional erhitztes, über sich selbst beunruhigtes Land“, schreibt Steinmeier. In einer Zeit wie dieser sei es Aufgabe des Bundespräsidenten, an die Stärken des Landes zu erinnern, betonte Steinmeier im Schloss Bellevue.
Er ermutige dazu, sich den Institutionen unserer Demokratie zuzuwenden und sich an ihnen zu beteiligen, heißt es im Buch. Der Staat müsse wieder im Sinne des Begriffs „Gemeinwesen“ verstanden werden - „der Staat nicht als etwas der Gesellschaft Fremdes oder gar Feindliches, sondern als Ausdruck des gemeinsamen Bemühens aller“.
Nötig seien nicht nur einige, die Politik als Beruf oder im Ehrenamt ausüben - „sondern wir brauchen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die diese Republik zu ihrer Sache machen, die sich in Worten und Wahlen schützend vor ihre Institutionen stellen“.
Der Bundespräsident wirbt unter anderem für einen „Brückenschlag“ zwischen Regierung und Opposition, so wie es ihn in den vergangenen Jahrzehnten bei wichtigen politischen Entscheidungen wie Westbindung, Wiederbewaffnung, Ostverträge, Atomausstieg oder Euro-Rettung auch gegeben habe. Und er plädiert für eine Staatsreform mit einem Abbau der über Jahrzehnte stetig gewachsenen Regelungs- und Kontrolldichte. „Eine Maxime könnte lauten: weniger Regeln, aber die beschlossenen Regeln dafür klarer anwenden.“ (dpa)