Wohin mit dem Atommüll? Umweltschützer nennen die Transportpläne „Irrsinn“, doch ein Neubau soll Hunderte Millionen Euro teurer sein.
Castor-Transporte wohl noch vor OsternAtomkraft-Gegner in NRW drohen Polizei mit heißem Frühling
Der Bund für Umwelt und Naturschutz BUND befürchtet, dass in NRW Atomtransporte vom Forschungszentrum Jülich ins Zwischenlager Ahaus unmittelbar bevorstehen. „Die Uhr tickt“, sagte BUND-Geschäftsführer Dirk Jansen dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN) bestätigte, dass mit der Transportgenehmigung in den nächsten Wochen zu rechnen sei. „Ein Irrsinn, den auch die Landesregierung zu verantworten hätte“, kritisierte Jansen.
Probetransport vor Weihnachten
Vor Weihnachten hatte bereits Probetransport eines leeren Castorbehälters stattgefunden. Auch die Polizei nutzte den Testlauf als Generalprobe und schützte die Verlegung mit massiven Kräften. Die Kolonne startete in Jülich gegen 22 Uhr, benötigte für die 185 Kilometer ins Münsterland rund vier Stunden. Der Transport sei reibungslos verlaufen, bestätigte ein Sprecher des JEN unserer Zeitung.
In Jülich im Norden des Kreises Düren wird Atommüll aus dem Hochtemperaturreaktor des Forschungszentrums gelagert, der 1988 nach zahlreichen Störfällen außer Betrieb genommen wurde. Das Material in den 152 Castor-Behältern gilt als hochbrisant. Bislang wird es in einer Halle gelagert, die in die Jahre gekommen ist und nicht mehr dem Stand der Technik entspricht. Weil befürchtet wurde, die Anlage könnte einem schweren Erdbeben nicht standhalten, ordnete das NRW-Wirtschaftsministerium als zuständige Atomaufsicht bereits 2014 die schnellstmögliche Räumung an.
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In Ahaus wäre Platz für 152 Castoren
Doch wohin mit den Brennelementen? Als Optionen standen der Neubau in Jülich oder ein Umzug nach Ahaus im Münsterland im Raum. Dort wäre genügend Platz für den Atommüll. Die Castoren aus Jülich würden nur sechs Prozent der Fläche in Anspruch nehmen. Experten favorisierten schon damals die Umzugsvariante. In einem Bericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2022 wurden die Weichen dafür gestellt. Darin heißt es, der Transport in Münsterland sei die „vorzugswürdige Option“. Um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein – in Ahaus läuft noch eine Klage gegen die Einlagerung – solle gleichwohl die Variante eines Neubaus in Jülich weiter parallel geprüft werden. Allerdings nur so lange, bis die ersten Transporte von Jülich nach Ahaus „erfolgreich durchgeführt“ worden seien. Ein Szenario, das nun unmittelbar bevorsteht.
Dem Bericht zufolge spielen bei dieser Priorisierung vor allem Kostengründe eine Rolle. Der Neubau eines Zwischenlagers würde 450 Millionen Euro kosten, die Einlagerung in Ahaus nur 100 Millionen Euro. Gegen den Neubau spreche auch, dass dieser frühestens 2032 fertiggestellt werden könne. Die Genehmigung ist langwierig. Auch dem Artenschutz muss Rechnung getragen werden.
Um den Neubau zu ermöglichen, müsste eine Fläche von rund 2,2 Hektar gerodet werden. Was hätte das für Auswirkungen für Flora und Fauna in Jülich? Ein Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass auf dem Gelände seltene Frösche und Kröten leben – und die vom Aussterben bedrohte Haselmaus. Der junge Birkenwald mit dichtem Brombeerbestand biete ein „optimales Habitat“ für die bedrohten Tiere, heißt es in der Expertise, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt. An 30 Stellen seien Nester, zum Teil mit Jungtieren, festgestellt worden. Eine Ausgleichsfläche sei „kurzfristig exakt zu verorten und die Unterschutzstellung auf mindestens 50 Jahre zu sichern.“
Atomtransporter sind abfahrbereit
Gut möglich, dass die Tiere bleiben können, wo sie sind. Denn während die Planungen für den Neubau sich noch in einem Vorstadium befänden, sei die Transport-Option „zu 95 Prozent“ genehmigungsseitig abgeschlossen, heißt es bei der JEN. Die vier Spezialfahrzeuge, die für die Mission angeschafft wurden, stehen abfahrbereit bei einem Spediteur. Es sei gut möglich, dass die ersten Castoren noch vor Ostern rollen würden.
Der BUND ist fassungslos über diese Entwicklung. Schließlich hatte Schwarz-Grün sich im Koalitionsvertrag von 2022 gegen Atom-Transporte und für einen Neubau in Jülich ausgesprochen. Nun unternehme die Landesregierung „erkennbar nichts“, um den Umzug zu verhindern. „Dabei könnte Wirtschaftsministerin Mona Neubaur die Räumungsanordnung einfach zurückziehen und damit den Druck aus der Leitung nehmen“, ist sich BUND-Geschäftsführer Jansen sicher.
Die Räumungsanordnung war 2014 mit der Erdbebengefahr begründet worden. Neuerdings werden die Risiken aber anders bewertet. Neue Berechnung aus dem Jahr 2022 kommen zu dem Ergebnis, dass die Castoren auch durch schwere Erdstöße nicht undicht werden sollen. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) segnete die Neugewichtung ab. Dadurch sei die Grundlage für die schnellstmögliche Schließung des Lagers hinfällig geworden sei, argumentiert der BUND. „Mit der Rücknahme der Räumungsanordnung wäre Zeit gewonnen, um in Jülich ein neues, modernes Lager bauen zu können, was die sicherste und wohl am Ende auch die preisgünstigere Lösung wäre“. Denn bei den Berechnungen der Bundesregierung seien die Kosten für den Polizeieinsatz für die Sicherung der Transporte nicht eingepreist worden.
Atomaufsicht verweist nach Berlin
Warum ergreift die Atomaufsicht diese Chance nicht? Das NRW-Wirtschaftsministerium reagierte auf Anfrage unserer Zeitung ausweichend. Für die Genehmigung des Lagers in Jülich sei das BASE in Berlin zuständig, hieß es. Zwar habe das BASE im Jahr 2022 bestätigt, dass nicht länger von einer Erdbebengefahr auszugehen sei, aber es gebe „weitere sicherheitsrelevante Aspekte, wie beispielsweise die IT-Sicherheit“, die im Zuge des Genehmigungsverfahrens zu bewerten seien, hieß es. Bis zu einer endgültigen Genehmigung müsse die Räumungsanordnung „in der bestehenden Form“ aufrechterhalten bleiben, so ein Sprecher von Wirtschaftsministerin Neubaur.
Zwischen 1984 und 2011 hatte es in Niedersachsen bei 13 Atomtransporten ins Zwischenlager Gorleben zum Teil erhebliche Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Polizei mit vielen Verletzten gegeben. Drohen jetzt in NRW Auseinandersetzungen von Aktivisten mit der Polizei? „Wir rechnen mit massiven Protesten der Anti-AKW-Bewegung“, sagt Jansen. Das „Nein“ zu Atomtransporten habe einst „zur DNA“ der Grünen gehört. „Mir ist völlig unverständlich, warum Neubaur nicht alles unternimmt, um die Transporte zu verhindern. Sollten tatsächlich – wie jetzt geplant – die Castoren noch vor Ostern nach Ahaus rollen, wäre das ein weiterer Glaubwürdigkeitsverlust“, kritisierte der BUND-Geschäftsführer.
Die NRW-Polizei bereitet sich nun auf die Transporte vor und sieht sich offenbar gut gerüstet. Das NRW-Innenministerium erklärte, es sei „von kräfteintensiven Einsatzmaßnahmen“ auszugehen. Die Polizei sei aber in der Lage, „anfallende Einsätze unmittelbar zu bewältigen und den Schutz der Bürger zu gewährleisten“. Die Bürgerinitiativen in Jülich und Ahaus kündigten Blockaden an. „Wenn die Polizei daraufsetzt, dass die Atom-Gegner mittlerweile ergraut sind und keine Lust haben, sich nachts auf die Straße zu setzen, hat sich geschnitten“, sagte ein Atomkraft-Gegner der Organisation „Ausgestrahlt“.
Transporte werden zwei Jahre dauern
Steht den Sicherheitsbehörden in NRW nun ein heißer Frühling bevor? André Stinka, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, forderte Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Mona Neubaur auf, sich nicht länger „wegzuducken“. Es sei „offensichtlich, dass Schwarz-Grün hier auf Zeit spielen und den Ball mal wieder nach Berlin schieben“ wolle. Der Koalitionsvertrag sei nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. So bleibe eine zentrale Frage unbeantwortet – nämlich, ob das Land bereit sei, die Mehrkosten für einen Neubau in Jülich zu übernehmen.
Nach bisherigen Planungen der JEN soll in jeder Transportnacht immer nur ein Castor auf die Reise gehen. Daher wird der gesamte Umzug wohl zwei Jahre dauern. Denn nicht an allen Tagen sind Umlagerungen möglich. So soll es dem Vernehmen nach zum Beispiel während der Fußball-Europameisterschaft keine Transporte geben. Dietmar Brockes, Sprecher für Energiepolitik der FDP-Landtagsfraktion NRW, riet der schwarz-grünen Landesregierung dazu, den Tatsachen ins Auge zu blicken. „Die Realität hat den Koalitionsvertrag überholt“, sagte der Liberale.