Der FDP-Bundesfinanzminister über den Krieg in der Ukraine, Militärausgaben und Deutschlands Auftritt auf der Weltbühne.
Christian Lindner im Interview„Putin will Macht über uns, um unsere Lebensweise zu kontrollieren“
Herr Lindner, in Berlin beginnen die Haushaltsverhandlungen. Die Lücke im Haushaltsplan 2025 wird zwischen 15 und 30 Milliarden Euro geschätzt. Lässt der Sparzwang der Ampel-Regierung bis zur Bundestagswahl überhaupt noch Gestaltungsspielräume?
Christian Lindner: Nicht mehr Geld auszugeben als man hat, das ist ein Gebot ökonomischer Vernunft. Der Bund investiert auf Rekordniveau. Und wir haben die Steuerlast gesenkt, zum Beispiel die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe auf ein Minimum. Um das zu finanzieren, muss an anderer Stelle gekürzt werden. Nach der Steuerschätzung im Mai wissen wir im Einzelnen, wie groß der Handlungsbedarf ist. Es ist sicherlich von einem zweistelligen Milliardenbetrag auszugehen. Das muss einen nicht ängstigen, aber diese Lage erfordert konsequente Maßnahmen.
Arbeitsminister Hubertus Heil sieht bei den Sozialausgaben kein Kürzungspotenzial. Teilen Sie die Einschätzung?
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Es gibt Diskussionsbedarf. Die SPD fordert fortwährend mehr Staatsverschuldung, damit sie zum Beispiel nicht ans Bürgergeld gehen muss. Ich rate dagegen zu einem Update für das Bürgergeld, weil wir uns mehr Schulden oder höhere Steuern nicht leisten können. Der Sozialstaat muss treffsicherer werden. Der Sozialetat ist der größte Einzelposten im Bundeshaushalt, er ist doppelt so groß wie der für Verteidigung. Ich bin dafür, dass wir eine Politik manchen, die den Menschen bessere Lebenschancen eröffnet. Wenn wir Menschen in Arbeit bringen, ermöglichen wir mehr soziale Teilhabe. Der positive Nebeneffekt ist, dass aus Beziehern staatlicher Leistungen Bürgerinnen und Bürger werden, die zur Staatsfinanzierung beitragen. Damit lassen sich Ausgaben einsparen.
Sollte der Druck auf Bürgergeldempfänger, Arbeit aufzunehmen, erhöht werden?
Wir brauchen eine fordernde Arbeitsmarktpolitik. Bei der Berechnung des Regelsatzes, den Sanktionen, der Pflicht zur Annahme zumutbarer Arbeit und der Kontaktdichte zwischen Agentur und Leistungsbeziehern zum Beispiel sollten wir kritisch prüfen, was sich in der Praxis nicht bewährt hat.
Sahra Wagenknecht kritisiert, dass sich ein Modell „Bürgergeld plus Schwarzarbeit“ verbreitet…
Das gibt es schon länger. Wie auch immer, es gibt eine zu große Zahl von Menschen, die arbeiten könnten, dies aber gegenwärtig nicht tun. Hier müssen wir handeln. Beispielsweise ist die Zahl der Ein-Euro-Jobs dramatisch zurückgegangen. Dass Leistungsbezieher Arbeitsgelegenheiten wahrnehmen, entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Steuerzahler, strukturiert den Tagesablauf, nimmt Freizeitwert und baut Brücken in den Arbeitsmarkt. Durch solche Maßnahmen kann man deutlich machen, dass das Bürgergeld kein bedingungsloses Grundeinkommen ist.
Ist der Abstand zwischen Bürgergeld und dem Einkommen von Geringverdienern zu gering?
Nicht generell, aber in bestimmten Fallkonstellationen. Für einen Bürgergeldempfänger darf sich gar nicht erst die Frage stellen, ob sich Arbeit lohnt. Wenn es ein zumutbares Angebot für Beschäftigung oder Qualifikation gibt, muss das angenommen werden. Unser Sozialstaat ist über die vergangenen Jahrzehnte aus dem richtigen Motiv gewachsen, Schicksalsschläge zu vermeiden und Bedürftigkeit zu überwinden. Mittlerweile gibt es aber Strukturen, die der Leistungsgerechtigkeit widersprechen.
Was meinen Sie damit?
Eine vierköpfige Familie mit einem Bruttoeinkommen von 2500 Euro kann durch staatlich Transferzahlungen wie Wohngeld am Ende genauso viel Geld zur Verfügung haben wie eine vergleichbare Familie mit 5000 Euro Bruttoeinkommen, die keine Sozialtransfers erhält, sondern Steuern zahlt. Ein Staat, der durch Umverteilung alle Unterschiede nivelliert, ist nicht gerecht.
Der Spardruck ist in allen Bereichen groß. Die Bauern haben mit Protesten bereits großen Druck ausgeübt. Wo soll das Landwirtschaftsministerium die geforderten 260 Millionen Euro einsparen?
Das liegt in der Verantwortung der einzelnen Ressorts.
Haben Sie Verständnis für die Kritik an den hohen Ausgaben für die Bundeswehr und die Unterstützung der Ukraine?
Nein. Unser Frieden und unsere Freiheit sind bedroht. Es geht Putin nicht nur um die Ukraine, er will die Friedens- und Freiheitsordnung in Europa verändern. Er will Macht über uns, um unsere Lebensweise und unseren Wohlstand zu kontrollieren. Wer müde wird, die Ukraine zu unterstützen, weil das zu anstrengend oder zu teuer ist, sollte also die Folgen bedenken. Die Gefahr von Krieg würde näher an uns heranrücken. Und wenn die Ukraine verliert, werden potenziell weitere Millionen Menschen vor Putin flüchten müssen.
Die Verteidigungsausgaben sind also unantastbar?
Sie werden steigen müssen. Wir müssen dauerhaft das Nato-Ziel von zwei Prozent Ausgaben gemessen an der Wirtschaftsleistung aufrechterhalten. Gegenwärtig hilft uns das von mir initiierte Sonderprogramm für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. Aber die Mittel sind 2028 erschöpft. Dann werden wir alles aus dem regulären Haushalt bestreiten müssen. Das wird gelingen, wenn wir erstens nicht immer neue staatliche Aufgaben beschließen. Und wenn wir zweites unsere Wirtschaft wieder in Gang bringen. Unsere Wirtschaftskraft war immer schon ein zentraler Faktor der Geopolitik. Das hat der Zerfall der Sowjetunion eindrucksvoll gezeigt.
Was halten Sie von Vorschlägen aus der SPD, den Krieg einzufrieren?
Russland hat Kriegsverbrechen begangen. Für die Ukraine geht es um die Existenz als Staat. Und für die Menschen geht es vielfach um das nackte Überleben. Eine solche Situation kann man nicht einfrieren. In allen Staaten, die sich von Putin bedroht fühlen, wie etwa im Baltikum, kommen solche Überlegungen nicht gut an. Wie würde es auf uns wirken, sollte in der französischen Nationalversammlung über das Einfrieren eines Konflikts nachgedacht werden, wenn der Feind in Chemnitz stünde? Putin darf seine Kriegsziele nicht erreichen.
Ihre Parteifreundin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat in der Taurus-Frage mit der Opposition gestimmt, wie gehen Sie damit um?
In Koalitionen gibt es keine wechselnden Mehrheiten. Marie-Agnes hat zum Ausdruck gebracht, wie viele Mitglieder unserer Fraktion denken. Sie hat das mit der Fraktionsführung besprochen.
Sie sind ein klarer Befürworter der Schuldenbremse. Können Sie ausschließen, dass erneut eine Notlage ausgerufen wird, um diese auszuhebeln?
Aufgrund von Tatsachen, die wir heute kennen, kann man die Schuldenbremse nicht noch mal aussetzen. Das wäre verfassungsrechtlich riskant. Jenseits der Rechtsfrage bin ich aber auch ökonomisch dagegen. Ja, auch ich will mehr investieren und die Steuern senken. Aber der leichte Weg, das alles über Staatsverschuldung zu finanzieren, ist nicht nachhaltig. Denn wir zahlen deutlich höhere Zinsen als wir Wirtschaftswachstum haben. Man kann zum Beispiel mehr für Bildung und Digitalisierung ja auch finanzieren, indem der Staat andere Ausgaben reduziert.
Die FDP befürwortet die umstrittene Cannabis-Freigabe. Doch es gibt Sorgen der CDU und vieler Mediziner und Sucht-Berater. Nehmen Sie die ernst?
Meine Partei hat dafür seit vielen Jahren geworben. Es geht nicht um ein Recht auf Rausch. Es geht um Kriminal- und Gesundheitsprävention. Cannabis wurde konsumiert, aber auf dem Schwarzmarkt beschafft. Die kontrollierte Abgabe ist besser.
Die CDU ist dagegen. Im Falle einer Koalition mit ihr, würden Sie mitmachen, die Legalisierung rückgängig zu machen?
Der Konsum von Cannabis war de facto in Deutschland toleriert. Jetzt legen wir den Schwarzmarkt hoffentlich trocken. Diese Entscheidung darf nicht fehlinterpretiert werden. Wie jede Droge ist auch Cannabis gefährlich, wenn man damit nicht verantwortungsbewusst umgeht. Diese Aufklärung müssen Eltern, Schule, Gesundheitsministerium und die Drogenberatungsstellen weiterhin übernehmen. Die praktischen Erfahrungen mit der neuen Rechtslage sollte sich die CDU aber erst einmal ansehen, bevor sie etwas fordert.
Wenn Sie auf die CDU gucken, wie beurteilen sie die Wahlchancen von Friedrich Merz?
Da bin ich nun kein objektiver Kritiker. Generell gehe ich davon aus, dass sich die Stimmungslage zur Bundestagswahl nochmals komplett verändern wird. Die CDU kann es sich momentan leisten, die Grünen gleichzeitig zum Hauptgegner und zum potenziellen Koalitionspartner zu erklären. Das wird vor der Bundestagswahl nicht möglich sein.
Die Politik will das Bundesverfassungsgericht besser schützen. Wie beurteilen Sie diesen Komplex?
Das kann man besprechen. Allerdings warne ich vor Alarmismus. Die Auseinandersetzung mit der AfD möchte ich mit nüchterner, sachlicher Härte führen. Die AfD will Deutschland aus der EU führen. Das würde uns wirtschaftlich ruinieren. Die AfD will die Unterstützung der Ukraine einstellen. Was das für unsere Freiheit und die Flüchtlingszahlen nach Deutschland bedeuten würde, habe ich gesagt. Umgekehrt hat die AfD keine praktisch tauglichen Antworten auf die Ordnung der Migration. Die haben wir. Zum Beispiel kommt die Bezahlkarte, die finanzielle Anreize für Asylanträge hier verringern und Transferzahlungen ins Ausland verhindern wird. Die Grünen sind gut beraten, ihre Blockade bald zu beenden. Viele Menschen, die aus Protest wählen, haben Sorge vor ideologischer Klimapolitik. Auch daran arbeiten wir. Wir überwinden die Planwirtschaft des geltenden Klimaschutzgesetzes, das noch die CDU beschlossen hat. Es kommt ein Klimaschutzgesetz, das technologieoffen ist und stärker mit Innovation und Wettbewerb arbeitet als mit Verboten.
Wie blicken Sie auf die bevorstehende Europawahl?
Mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann gehen wir mit einer Freiheitskämpferin in die Europawahl. Sie ist nicht nur eine Kampfansage an die Rechtspopulisten, sondern auch an den Bürokratismus von Ursula von der Leyen. Mit ihr als Kommissionspräsidentin verbindet sich das unsinnige Verbot des Verbrennungsmotors, bürokratische Regelungen für den Mittelstand und der Ruf nach europäischen Gemeinschaftsschulden, für die Deutschland geradestehen müsste. Die EU sollte aber keine Bürokratiefalle sein, sondern ein Freiheitsversprechen.
2017 haben Sie gesagt: „Besser nicht regieren als falsch regieren.“ Stehen Sie heute noch dazu? Regiert die Ampel richtig?
Der Satz gilt für mich unverändert. Die Richtung ist richtig. Nehmen Sie die Finanzpolitik als Beispiel. 2021 betrug die Schuldenquote Deutschlands 69 Prozent. Jetzt sind es 63 Prozent. Gleichzeitig sinkt die Steuerlast und die Investitionen steigen. Das ist der Politikwechsel, für den ich als Spitzenkandidat der FDP 2021 geworben habe. Die FDP bewirkt mehr, als einer Partei von gut zehn Prozent zuzutrauen war.
Ist es so, dass wirklich viel gestritten wird in der Koalition? Oder ist das von den Medien rein interpretiert?
Viele Dinge gehen geräuschlos über die Bühne. Bei Wertefragen gibt es große Unterschiede. Aber wen kann das überraschen? Die Grünen sind von Millionen Menschen gewählt worden mit einer Philosophie, die vor allem auf den Staat schaut, die Lenkung der Wirtschaft und die Erziehung der Menschen zu anderem Verhalten. Die FDP ist gewählt worden für das Gegenteil: Stärker Vertrauen in die Verantwortung des Einzelnen zu setzen, die Wirtschaft zu entfesseln, mehr auf Technologie zu setzen. Ich würde den Grünen nie vorwerfen, auf ihren Wählerauftrag zu schauen. Aber gleichzeitig wird uns fortwährend von den Medien der Vorwurf gemacht, wir würden etwas blockieren. Dabei erfüllen wir nur unseren Wählerauftrag. Und der umfasst Fortschritt, aber nicht linke und grüne Vorhaben.
Welches Datum halten Sie für den Kohleausstieg wirklich für realistisch?
Ich bin dagegen, dass wir immer öfter politisch definieren, wann wir auf bestimmte Energieträger verzichten. Wir sollten lieber das Augenmerk darauf richten, wann neue Technologien als sichere und bezahlbare Alternative verfügbar sind. Deswegen gibt es im Koalitionsvertrag auf Bundesebene die Formulierung, dass der Kohleausstieg im Idealfall 2030 stattfindet. Seitdem ist viel passiert, auch bei Energiepreisen und Energietechnologie. Für mich ist das nicht ein in Stein gemeißeltes Datum. Wichtig ist, dass wir 24 Stunden, 365 Tage und 52 Wochen im Jahr Strom haben. Und das zu Preisen, die tragbar sind.
Warum unterstützen Sie die deutsche Solarindustrie nicht mehr und setzen auf chinesische Module?
Die Erneuerbaren Energien werden jedes Jahr mit vielen Milliarden Euro vom Steuerzahler subventioniert. Man kann aber nicht niedrigere Energiepreise fordern und gleichzeitig immer neue Subventionen einführen. Die Spitzentechnologie bei Solar ist der Wechselrichter, nicht die Solar-Module. Die kann man überall auf dem Weltmarkt zu günstigen Preisen kaufen. 90 Prozent der Module werden ja nicht in Deutschland produziert. Geld der Steuerzahler einzusetzen, um etwas zu produzieren, was man überall günstig kaufen kann, erschließt sich mir nicht. Diese Form der Resilienz brauchen wir nicht. Wenn wir keine Chips aus Taiwan bekommen, steht die Produktion von Autos in Deutschland still. Wenn wir keine Module aus China bekommen, dann bekommen wir wenige Wochen später günstige Module aus den USA oder von sonst wo. Hier gibt es einen Unterschied.
Schwarz-Grün feiert sich für die Microsoft-Ansiedlung im Rheinischen Revier. Ist die Euphorie gerechtfertigt?
Die Ansiedlung von Microsoft ist eine gute Nachricht. Dieser Erfolg geht auch auf den damaligen FDP-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart zurück. Aber Ansiedlungen dieser Art sind leider keine Beruhigung, dass mit unserer Wirtschaft alles in Ordnung ist. Die Microsoft-Ansiedlung ist momentan leider nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Seit 2014 fällt Deutschland jedes Jahr in Standortrankings zurück. Damals standen wir auf Platz 6 der globalen Wettbewerbsfähigkeit, jetzt sind wir bei Platz 22 angekommen. Deshalb plädiere ich für eine Wirtschaftswende, um diese Entwicklung umzukehren. Wir brauchen nicht mehr Subventionen für einzelne Branchen wie Solar-Module, sondern bessere Rahmenbedingungen für alle. Weniger Bürokratie, mobilisierter Arbeitsmarkt, geringere Steuern und bezahlbare Energie sind nötig.
Haben Sie Sorgen vor einer Trump-Wiederwahl?
Wer vor Donald Trump Angst hat, darf nicht aus dem Blick verlieren, dass auch die Wirtschaftspolitik von Joe Biden für uns problematisch ist. Es gibt auch in der Biden-Administration protektionistische Tendenzen, die gegen unsere Wirtschaft gerichtet sind. Bei Trump ist unklar, wie er zu den Beistandsverpflichtungen der Nato steht. Für mich gibt es daraus nur eine Konsequenz: Wir müssen in Europa unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen unsere Wirtschaft auf Erfolgskurs bringen, dann sind wir für die USA so interessant, dass sie den Blick von uns nicht abwenden. Wir müssen unter dem Dach der Nato die europäische militärische Säule stärken. Eine faire Lastenverteilung ist notwendig. Außerdem müssen wir unsere Beziehungen zu anderen Regionen stärken. Wir brauchen einen neuen Realismus in der Außenpolitik.
Wer sind denn die potenziellen neuen Freunde?
Es gibt viele liberale Demokratien in der Welt, von Kanada über Südkorea bis Japan. Es gibt auch schwierigere Gegenüber, etwa Brasilien oder Indien. Diese teilen nicht alle unsere Vorstellungen, aber das wirtschaftliche Potenzial verstärkter Zusammenarbeit müssen wir nutzen. Und darauf achten, dass diese Staaten sich nicht in einen Block begeben mit Russland und China. Deshalb sollten wir weniger belehrend auf der Weltbühne auftreten.