Zehn Jahre lang war Ali Emili auf Hartz-IV angewiesen. Mit dem Jobeinstieg bei der Caritas hat sich sein Leben nicht nur finanziell verbessert.
Debatte um BürgergeldKölner war zehn Jahre arbeitslos – sein neuer Job veränderte alles
Draußen hängen noch Winterreste und Wolken in der Luft. Drinnen haben sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Scheiben gestohlen und erwärmen den Frühstücksraum. „The Temptations“ soulen sich lautstark einen zurecht. „When it’s cold outside. I’ve got the month of May“ und „My girl, my, girl, my girl“. Ali Emili hat seinen Wagen mit Piccolo-Sekt, Schokolade, Marmelade und Tee beladen. Dazwischen Gläser, Wasserflaschen und Saftkartons.
Ali Emili kurbelt strahlend an der Bingotrommel
Als er in den Aufenthaltsraum hereinrattert, wird seine Ankunft wohlwollend, aber auch mit einer gewissen Strenge von den Wartenden registriert: Rund zwei Dutzend sitzen da an Tischen, darunter: Brigitte T., 75, mit sorgfältig manikürten Fingernägeln in Kirsche, Gertrud K., 99, die ihr selbstgehäkeltes Täschchen aus rosa Wolle als Accessoire umgehängt hat, Hans-Joachim W., 89, der früher mal Metzger war, Agnes Sch., die listig lächelt, wenn sie vom bevorstehenden Halloweenfest berichtet. Es wird ihr 100. Geburtstag sein. „Wir haben fünf nach zehn“, mahnt Frau T. mit einem Blick auf die Uhr. „Loss jonn!“ „Dann wollen wir direkt durchstarten“, ruft Ali Emili und kurbelt strahlend an der Bingotrommel.
Bingo, montags von zehn bis elf Uhr
So steht es im Veranstaltungskalender des Caritas-Seniorenzentrums Sebastianusstift in Hürth-Gleuel. Und so ist es fest verankert in den Gehirnen der hier wohnenden Senioren. Ein Highlight. „Das könnten wir jeden Tag machen“, sagt Brigitte T. Zuständig für diese Herrlichkeit im Wochenplan ist Ali Emili, 40 Jahre, seit gut eineinhalb Jahren Alltagsbetreuer beim Sozialen Dienst der Caritas. Emili geht mit den Senioren aus dem Sebastianusstift einkaufen, spazieren, zum Arzt, er spielt mit ihnen Uno, schleppt den Wasserkasten herbei, liest vor, lässt sich Geschichten von früher erzählen und organisiert eben auch das Bingo-Event am Montagvormittag. „Alltag versüßen“ nennt Emili seine Aufgabe und fügt hinzu: „Ich liebe meine Arbeit.“ Ein großer Satz, den Emili viele Jahre nicht sagen konnte. Denn zehn Jahre lang war Emili arbeitslos und lebte von Hartz-IV.
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CDU will Bürgergeld zu Grundsicherung mit verbindlicheren Anforderungen umbauen
Ganz Deutschland diskutiert über das Bürgergeld, Nachfolger vom Hartz-IV genannten Arbeitslosengeld II. Schon im Januar forderte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schärfere Sanktionen für diejenigen Erwerbslosen, die eine Arbeitsstelle ablehnten. Nun hat auch die CDU die Debatte um das vermeintlich zu süße Leben der 5,5 Millionen Sozialleistungsempfänger in Deutschland neu entfacht. Geht es nach den Plänen der Partei, so soll die Unterstützung radikal zu einer „Neuen Grundsicherung“ mit verbindlicheren Anforderungen und Sanktionen umgebaut werden.
Lehnt einer der arbeitsfähigen Grundsicherungsempfänger ohne sachlichen Grund eine „ihm zumutbare Arbeit ab, soll künftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist“, heißt es im Parteibeschluss. Die CDU trabt mit dem Papier mitten hinein in die Befindlichkeit der Volksseele. Im repräsentativen Deutschlandtrend von „Infratest dimap“ sprachen sich Ende des Jahres zwei Drittel der Befragten für Einsparungen beim Bürgergeld aus.
Erwerbsarbeit ist ein zentraler Bestandteil unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Das System ist darauf angelegt, dass diejenigen belohnt werden, die sich anstrengen, nicht diejenigen, die sich weigern, ihren Teil beizutragen. So weit, so banal.
Die Debatte ist populistisch aufgeladen
Das Problem der Debatte ist, dass sie von Parteien seit Jahrzehnten populistisch aufgeladen wird. Es wird insinuiert, dass Menschen freiwillig nicht arbeiten. Mehr noch: Dass Bürgergeldempfänger verschlagene Faulenzer sind, die die Allgemeinheit ausnutzen und sich insgeheim ins Fäustchen lachen, weil man sie nicht zur Maloche zwingt. Wolfgang Schäuble, damaliger Vorsitzender der Unions-Bundestagsfraktion, forderte schon 1994 „mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, weniger soziale Hängematte“. 2006 war sich der damalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck sicher, einen super Tipp für einen Arbeitslosen zu haben, zu dem er sagte: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job.“
Wer mit Menschen wie Martina Würker, Leiterin des Jobcenter Köln, spricht, entdeckt eine ganz andere Wahrheit jenseits der Bierzelt-geeigneten Rede. Zunächst einmal müssen die Zahlen zurechtgerückt werden. Von den 5,5 Millionen Leistungsempfängern in Deutschland sind 1,5 Millionen Kinder. 1,6 Millionen können nicht arbeiten, weil sie gerade beispielsweise ein Studium absolvieren oder einen Säugling betreuen. Weitere 800.000 arbeiten, bekommen aber dafür so wenig, dass sie zusätzlich aufstocken müssen. Bleiben für Deutschland 1,6 Millionen, für Köln „82.000 erwerbsfähige Leistungsempfänger über 15 Jahre. Das sind aber nicht alles Menschen, die versuchen den Staat zu betrügen. Die meisten von ihnen““, so Würker „würden gerne arbeiten. Schicksalsschläge und fehlendes Selbstvertrauen hindern sie aber daran“.
Emili hat das Bild vom verschlagenen Faulenzer, der die Allgemeinheit ausnutzt und damit noch besser wegkommt als die vermeintlich dummen Erwerbstätigen, viele Jahre lang ebenfalls eher blockiert als angespornt. Gelernt hat er einst Automechaniker bei Ford, Fließband sei aber nicht so sein Ding. Also sattelt er um, importiert jahrelang gemeinsam mit seinem Bruder Friseurwaren aus der Türkei. Als es in der Geschwisterbeziehung kriselt, scheitert auch das Geschäft. Emili rutscht in Hartz-IV. Sein Tagesablauf ein einziges Klischee: Bis mittags schlafen, Freizeitbeschäftigung Fernsehen, zu viel Alkohol, kaum Freunde, wenig Selbstvertrauen. Schön war das nicht, sagt Emili. Krieg deinen Arsch hoch, sagt der Vater. Da hat einem jemand wie Friedrich Merz, der von „Totalverweigerern“ redet, gerade noch gefehlt. Aber wie den Wiedereinstieg schaffen? Und warum, wenn doch alle sagen, dass sich Arbeiten nicht lohne?
Institut hat berechnet: Wer arbeitet und Sozialleistungen beantragt, hat immer mehr als mit Bürgergeld
Eine Studie des Münchner Ifo-Instituts hat etwas ganz anderes ergeben, als einige Politiker glauben machen: Wer arbeitet und alle verfügbaren Sozialleistungen in Anspruch nimmt, also zum Beispiel Wohngeld und Kinderzuschlag, hat in jedem Fall mehr Geld zur Verfügung als jemand, der nicht arbeitet und nur Sozialleistungen bekommt. Ein alleinstehender Bürgergeldempfänger beispielsweise hat nach Abzug der vom Staat übernommenen Kosten für Wohnung und Heizung monatlich 536 Euro zur Verfügung. Schon bei einem Bruttoverdienst von nur 1000 Euro im Monat bleiben nach Abzug aller Steuern und Sozialabgaben und bei Hinzurechnung aller staatlichen Leistungen für Geringverdiener bei einem mittleren Mietniveau 891 Euro. Macht ein Plus von 355 Euro zum Ausgeben jeden Monat, das ist eine Menge für Menschen, für die der Staat laut Regelbedarf-Zusammensetzung 14,70 Euro für Gaststätten und 2,03 Euro für die Bildung vorsieht. Würker vom Jobcenter Köln sagt: „Niemand will Bürgergeld, am Ende ist das immer weniger, als wenn man arbeitet und dazu beispielsweise Wohngeld beantragt.“
Ali Emili bekommt für seinen Vollzeitjob bei der Caritas 1780 Euro netto im Monat. Davon bezahlt er 450 Euro Miete sowie 70 Euro für die Heizung. Was übrig bleibt, kann er in einen Urlaub stecken, in Kleidung, in einen Besuch bei Nimet Grill auf der Kalker Hauptstraße. Aber auch wie zuletzt in eine Discokugel mit Leuchteffekten, die jetzt in seinem Wohnzimmer kreiselt. Niemand braucht eine Discokugel im Wohnzimmer. Sie ist unnötig, aber „stimmungsvoll“, Emili kann sich so ein überflüssiges Adjektiv jetzt leisten und irgendwie macht ihn das froh. Wobei: das Geld, sagt Emili und lächelt als hätte man in seinen Augen ein Kaminfeuer entfacht, sei natürlich nicht alles. Jetzt, wo es jeden Monat auf seinem Konto landet, vielleicht sogar das Unwichtigste an der Arbeit.
„Die 36“, ruft Emili, fischt die Nummernkugel aus der Zielgeraden am Trommelausgang und sortiert sie auf ein Brett. „Hamma nit“, echot Bingospielerin Brigitte T. vergnügt. „Die 12“, ruft Emili. „Hamma“, erwidert T. und zückt den Folienstift. „Die 50“ – „Hamma nit“. „Sagen Sie doch jetzt nicht immer Hamma oder Hamma nit“, schimpft ein Mann. „Lassen Sie doch Frau T.“, schaltet sich Emili beschwichtigend ein. Brigitte T. kichert. „18“, ruft Emili. „War ich auch mal“, kommentiert Joachim W., der früher wie gesagt mal Metzger war und heute noch eine entsprechende Schiebermütze trägt.
Jahrelang unfähig, sich zu motivieren
Die Stimmung ist gut, aus dem Radio singt gerade jemand vom „Itsy-Bitsy-Teenie-Weenie-Yellow-Polkadot-Bikini“, es wird fieberhaft nach Zahlen auf den Plastikkarten gefahndet, man nähert sich dem Höhepunkt. Und dann ruft Agnes Sch. zaghaft und doch nicht ohne Stolz „Bingo“. Applaus brandet auf. Emili eilt heran zur Zahlenkontrolle und fragt dann: „Wollen Sie als Preis einen Piccolo, Kamelle, Marmelade oder Tee?“ „Piccolo“, raunen die Mitspieler vielstimmig. Agnes Sch. nickt lächelnd und nimmt die „kleine Reblaus“ in Empfang.
August 2022. Ali Emili nennt diesen Monat den Beginn seiner Metamorphose. Jahrelang war er unfähig, sich zu motivieren. Dann wurde er in den Kundenbeirat des Jobcenter Köln gewählt. Man fragte ihn nach seiner Meinung. Hörte zu. Fand seine Ideen erwägenswert. Irgendwie hat ihn das erreicht. Emili setzt sich also eines Tages auf sein Fahrrad und tritt. 13 Kilometer sind es von seinem damaligen Wohnort Köln-Höhenberg bis zu seiner neuen Arbeitsstelle nach Hürth. Eine Stunde über den Rhein, vorbei am Zoo, über den Ring, an der Uni vorbeisausen, hinterm Militärring raus auf die Felder, Sielsdorf, Gleuel. Zeit zum Nachdenken und Zeit zum Zweifeln. Glücklich werden im Altenheim? Wie soll das gehen?
Lob der Tochter: „Papa, die Arbeit hat dich zu einem anderen Menschen gemacht“
Doch schon auf der ersten Rückfahrt tritt es sich leichter. Bald geht es fast wie von alleine. „Das ist der beste Job, den ich je hatte. Mir geht es jeden Tag besser“, schwärmt Emili. Er fühlt sich anerkannt, nützlich, gebraucht. „Ich kann für die alten Menschen da sein, ihnen helfen.“ Der Austausch mit den Kollegen, die Tagesstruktur und der Selbstbewusstseinsschub haben Emilis gesamtes Leben verändert. „Seit sechs Monaten habe ich auch eine Freundin.“ Säße Emili den ganzen Tag untätig und hadernd zu Hause herum, würde sie ihn, so ahnt er, auf Trab bringen: „Nerv mich nicht. Geh arbeiten!“ Und dann ist da auch noch Emilis Tochter, 20 Jahre alt, Lehramtsstudentin, die zu ihm gesagt habe: „Papa, das finde ich richtig toll! Die Arbeit hat dich zu einem anderen Menschen gemacht.“ Emili grinst breit.
Zahl der Leistungsempfänger in Köln rückläufig
Das vor gut einem Jahr eingeführte Bürgergeld, so suggeriert es der Stammtisch, habe zu einer Zunahme an Leistungsempfängern geführt. Menschen, so sagt man, würden gar ihre Jobs kündigen, weil das vom Staat subventionierte Leben so viel angenehmer wäre. Martina Würker vom Jobcenter in Köln sagt das Gegenteil. „Die Zahl der Leistungsempfänger in Köln ist sogar tendenziell rückläufig.“ Wer bei Würker und deren Mitarbeitern sitzt, der strotze auch selten vor Lebenszufriedenheit. Gründe sich lange Arbeitslosigkeit doch meist auf familiäre Schicksalsschläge, psychische Belastungen, Depressionen.
Außerdem: „Ein Bürgergeldantrag ist kein Spaß. Die Menschen müssen hier alles offenlegen. Kontoauszüge, Versicherungen, Mietzahlungen. Aber auch: Wo wohnen Sie und mit wem? Besteht eine Partnerschaft? Haben Sie ein Auto?“ Dazu komme die Isolation, unter der die meisten Bürgergeldempfänger litten. „Diese Menschen haben oft keine sozialen Beziehungen, sie können nicht mit Kollegen etwas trinken gehen, sie lernen keine neuen Leute kennen. Sie sehnen sich nach Feedback, Anerkennung, Gemochtwerden.“
Mehr Menschen in Arbeit zu bringen ist Würkers Job und Ziel. Sie glaubt daran, dass jeder in dieser Gesellschaft durch seine Arbeitsleistung seinen Teil zum Gelingen des Ganzen beitragen muss. Sie spricht von Pflicht. Die derzeitige politische Debatte, die den Blick auf die Verweigerer richtet, so Würker, führe aber am Kern vorbei. Denn: „Diejenigen, die sich durchmogeln, sind nicht die Masse.“ Im Fokus müssten diejenigen stehen, „die wollen, sich aber schwertun“.
Martina Würker: „Eine Ausbildung ist die Eintrittskarte für alles“
Zwei Drittel der erwerbsfähigen Bürgergeldempfänger haben nach Würkers Aussage keinen Beruf gelernt. „Wir müssen ihnen helfen, eine Ausbildung abzuschließen. Sie ist die Eintrittskarte für alles.“ Der Weg dorthin sei allerdings oft steinig. Es gehe gar nicht so häufig um die Überwindung von Unwillen und Faulheit. Es gehe nach langer Arbeitslosigkeit vielmehr zunächst um das Erlernen von Tagesstruktur. In Teilen um die Überwindung von Suchterkrankungen. Um fehlende Konfliktfähigkeit, um Frustrationstoleranz. Bei geflüchteten Menschen um Sprachkenntnisse. Bei Alleinerziehenden um kreative Ideen bezüglich der Kinderbetreuung. „Da stecken wir sehr viel Mühe rein, um jeden individuell wieder einzugliedern.“
Würker und ihre Mitarbeiter tun das durchaus mit Erfolg. Jedes Jahr, so sagt sie, werde etwa ein Fünftel der Bürgergeldempfänger in Arbeit vermittelt. „Natürlich kommen auch immer wieder neue dazu, aber es handelt sich nicht um einen festen Block. Da ist viel Bewegung drin.“ Wenn nun in einem CDU-Papier gefordert wird, „dass der Fokus der Jobcenter wieder stärker auf eine intensive und qualifizierende Unterstützung der Hilfeempfänger gelegt wird, damit diese langfristig auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen“, dann möchte Würker einfach antworten: „Aber das machen wir doch schon die ganze Zeit!“
Ali Emili hat selbst erlebt, wie schwer der Schritt zurück in die Erwerbstätigkeit sein kann. Aber er weiß auch, wie lohnenswert er ist. „Klar gibt es Leute, die zu Hause sitzen, arbeiten könnten, aber denken: Was krieg ich dafür schon“, sagt Emili. „Denen kann ich nur zurufen: Leute! Geht arbeiten! Wir brauchen euch! Was ihr bekommt? Unabhängigkeit!“
Vielleicht sogar sowas wie Sinn. Emili muss weiter. Die Verantwortung ruft. Vielleicht wäre passender, zu sagen: Emili will weiter. Es sei doch verrückt, sagt er und fährt sich durch die dunklen Haare. Immer freue er sich auf die Pause, den Feierabend und dann? Vermisse er aber gleich wieder die Arbeit, freue sich auf seine Bewohnerinnen und Bewohner. Eine ganze Kette an Vorfreude hat sich Emili auf diese Weise gebastelt, an der es sich vergleichsweise heiter durchs Leben spazieren lässt. Was heute noch ansteht? Frau Sch. will noch die Geschichte ihrer Führerscheinprüfung von vor 70 Jahren erzählen. Oder von ihrer Kindheit in Ostpreußen. Oder von einem besonders einprägsamen Sommerfest. Außerdem möchte sie in den Park geschoben werden, Kinder lachen sehen, die von der Schule nach Hause spazieren. Einen Plausch halten mit dem Eisverkäufer. Und dann steht noch ein Rewe-Besuch auf dem Plan, Weingummi und Schinken kaufen. Leben eben.