Fachkräfte und Verfolgte aufnehmen, aber nur wenige „Wirtschaftsflüchtlinge“, fordert Reul bei Migration. Merz gibt er keine Ratschläge.
NRW-Innenminister Herbert Reul„Ich war früher nicht im Fanclub von Friedrich Merz“
Mehr als 220.000 Anträge auf Asyl sind von Januar bis August in Deutschland gestellt worden – die meisten von Menschen aus Syrien. Städte und Gemeinden sind stark belastet wegen des Zuzugs. Noch liegen die Zahlen aber deutlich unter den Jahreswerten von 2015 (476.000) und 2016 (745.000). Im Interview spricht NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) über die aktuellen Fragen rund um die Migration.
Herr Reul, Ihr Parteivorsitzender Friedrich Merz hat mit Äußerungen zur angeblich privilegierten Zahnbehandlung von abgelehnten Asylbewerbern für Empörung gesorgt. Teilen Sie diese Empörung?
Reul: Ich habe keine Lust mehr, darüber zu streiten, ob der eine oder andere ein falsches Wort gewählt hat. Denn entscheidend ist bei der Flüchtlingspolitik die Problemlösung. Ich träume vielmehr davon, dass sich nach dem Interview des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck …
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… der vor einem drohenden Kontrollverlust gewarnt hatte …
… alle, die ein bisschen was im Kopf haben, zusammenraufen und anfangen, ein paar Wahrheiten auszusprechen und Lösungen zu finden. Die Leute haben es satt. Wir haben 20 Prozent AfD und 30 Prozent Nichtwähler. Es reicht doch langsam. Ich mache mir große Sorgen.
Trotzdem sollte es auch darum gehen, eine Sprache zu wählen, die nicht noch weiter aufheizt, oder?
Das ist immer klug.
Zumal die Behauptung von Herrn Merz, wie selbst die Bundeszahnärztekammer sagt, falsch ist.
Er wollte damit ein Problem ansprechen, das sonst nicht angesprochen wird: dass wir mit unseren Sozialleistungen Flüchtlinge anziehen. Darüber kann man nachdenken.
Es ist nicht die erste Äußerung von Herrn Merz, die für Streit sorgt. Und es häufen sich Stimmen, die sagen, dass er zumindest als Kanzlerkandidat ungeeignet wäre.
Ich habe immer gesagt, dass ich diese blöde Debatte über Kanzlerkandidaten nicht mitmache. Denn sie bringt nichts. Wir sollten erstmal die beschriebenen Probleme lösen und die AfD überflüssig machen. Dann können wir uns auch darum kümmern, dass die CDU stärkste Partei wird – und am Ende darüber reden, wer welchen Posten kriegt.
Ist Herr Merz als CDU-Vorsitzender noch geeignet?
Er ist gewählt worden und er ist unser Vorsitzender. Was im nächsten oder übernächsten Jahr ist, das weiß ich nicht. Richtig ist, dass ich früher nicht zum Fanklub von Friedrich Merz gehört habe. Ich war immer für Armin Laschet – einen Mann mit hoher Qualität, der wegen eines blöden Lachers im letzten Bundestagswahlkampf die Wahl verloren hat. Daran waren auch eigene Leute maßgeblich beteiligt. Daher wissen wir: Grabenkämpfe in den eigenen Reihen nutzen nur dem politischen Gegner.
Was sollte Herr Merz jetzt tun? Sollte er sagen: Ich habe mich mal wieder verhauen?
Ich bin kein Ratgeber.
Die Flüchtlingspolitik selbst ist derzeit Thema Nummer eins. Dabei ist bis in grüne Kreise hinein unumstritten, dass Deutschlands Aufnahmefähigkeit erschöpft ist. Was kann man realistischerweise tun, um die Zahlen zu senken?
Ich habe auch keine Zauberlösung. Die gibt es nämlich nicht. Außerdem bin ich auch nicht für diese Fragen zuständig. Mir machen aber die Entwicklungen in unserer Gesellschaft Sorgen. Das Wichtigste ist aber, dass alle Parteien gemeinsam sagen: Es gibt hier ein Problem, und das nicht nur leise und verstohlen. Anschließend sollten wir die Probleme abschichten. Ich kenne zum Beispiel niemanden, der keine Facharbeiter nach Deutschland holen will. Und ich kenne auch keine nennenswerten Leute, die wirklich politisch Verfolgte nicht aufnehmen wollen.
Alle Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen? – Reul: „Das schaffen wir nicht“
Aber?
Daneben gibt es aber die Gruppe der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge. Die können wir offensichtlich nicht alle aufnehmen. Das schaffen wir nicht. Das müssen wir benennen und anschließend klug überlegen, an welchen Stellschrauben wir drehen können.
Und, welche?
Ich kann mir vorstellen, dass eine Stellschraube die Sozialleistungen sind, die wir gewähren. Da können wir nachjustieren. Ich glaube, es sollte einen Unterschied machen, ob ein Asylbewerber vollziehbar ausreisepflichtig oder gerade erst angekommen ist. Im ersten Fall sollten wir gucken, wie hoch die Leistungen noch sein müssen. Außerdem sollten wir den Zuzug begrenzen. Wenn ich jetzt sage, das muss europäisch geschehen, dann sagen manche Bürger: Da passiert ja nichts. Deshalb sollten wir uns stärker um die Nachbarländer der EU kümmern. Der beste Beitrag, der dazu je geleistet worden ist, ist der Türkei-Deal von Angela Merkel. Er war wirkungsvoll. Es sollte um faire, rechtsstaatliche Verfahren an den EU-Außengrenzen gehen – gepaart mit Hilfe für die Länder jenseits der EU, die sich jetzt um Flüchtlinge kümmern. Das kostet Geld, ist aber kein Drama und auf jeden Fall klüger.
Wie steht es mit der Forderung nach einer Obergrenze, wie sie jetzt wieder Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erhoben hat?
Obergrenzen sind nach meiner Auffassung keine Antwort auf die Frage, wie man sie einhält. Und die Lage wird sich noch verschärfen. Wir können das nicht laufen lassen.
Kann man denn irgendetwas tun, um die Zahlen schnell zu senken?
Ich hoffe. Das setzt aber voraus, dass Entscheidungen getroffen werden. An den Grenzen zu Polen und Tschechien jetzt stärker zu kontrollieren, ist auch eine Maßnahme. Flächendeckende Grenzkontrollen können allerdings nicht die Antwort sein. Damit machen wir unser offenes Europa kaputt.
Gemeinsam mit der AfD abstimmen? – Reul: „Ich kenne kein Thema, das es wert wäre“
Alle erwähnten Maßnahmen würden wenig daran ändern, dass die Flüchtlinge aus den Hauptherkunftsländern Syrien, Afghanistan, Irak und Iran wohl weiter kommen würden und auch bleiben dürften. Wenn Sie Wahrheit anmahnen: Ist das nicht auch eine Wahrheit, die ausgesprochen werden muss?
Asylrecht ist ein Individualrecht. Da muss jeder Fall einzeln angeguckt werden. Mein Problem ist, was in der Flüchtlingsfrage daraus für unsere Gesellschaft folgt. Dort rumort es gewaltig und auf jeder Veranstaltung auf der ich bin, fragen mich die Leute: Wie gehen wir mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik um? Ich kann allen Beteiligten nur empfehlen: Wir müssen die Probleme benennen, sonst kommen wir nicht weiter. Davon bin ich überzeugt. In Nordrhein-Westfalen habe ich am Anfang auch einfach das Problem der Clan-Kriminalität erst mal offen angesprochen. Das war ganz banal und hat bei den Menschen Vertrauen geschaffen. Daraus ziehe ich meine Lehre.
Noch ein anderes Thema: die AfD. Die CDU in Thüringen hat mithilfe der AfD eine Steuersenkung durchgesetzt. Ist das Konzept Brandmauer am Ende?
Eine Zusammenarbeit mit der AfD kommt für mich überhaupt nicht in Betracht. Und wenn man Anträge wie in Thüringen einbringt, dann muss man prüfen, was sie bewirken und ob der Erfolg so viel mehr wert ist als die Gefahr, die AfD hoffähig zu machen. Allerdings möchte ich in Thüringen auch nicht Politik machen müssen; das ist nicht einfach.
Nun soll im Thüringer Landtag über ein Gender-Verbot abgestimmt werden. Wäre es das wert?
Ich kenne kein Thema, das es wert wäre.
Es gibt Leute in der CDU, die das anders sehen. Der bisherige Vorsitzende der Grundwertekommission, Andreas Rödder, der gerade zurückgetretene CDU-Chef von Bremen, Carsten Meyer-Heder, oder einzelne CDU-Abgeordnete in Sachsen-Anhalt. Kommt da bei Ihnen in der Partei etwas ins Rutschen?
Ministerpräsident Reiner Haseloff hat seinen Innenminister damals entlassen. Es gibt auch schöne Geschichten. Ich verstehe zudem, dass es wie in Thüringen Abnutzungseffekte geben kann und manche in der CDU verzweifelt sagen: Sonst kriegen wir ja gar nichts mehr hin. Aber richtig sind Anträge, die nur mit Hilfe der AfD durchgebracht werden können, trotzdem nicht.
Noch einmal gefragt: Kommt da etwas ins Rutschen?
Je länger wir die Probleme wie das mit der Flüchtlingspolitik nicht lösen, je stärker die AfD wird und die Gefahr einer Unregierbarkeit und des Stillstands besteht, desto größer ist die Gefahr, dass etwas ins Rutschen gerät, ja. Das darf nicht passieren.
Wie groß ist die Gefahr einer noch größeren Demokratiekrise, wenn die große Mitte-Partei CDU der Versuchung von Rechtsaußen nicht standhält?
Die Gefahr wäre groß. Punkt. Wir sind aber nicht allein dafür verantwortlich. Dass die SPD nur noch bei 15 Prozent liegt, ist auch ein Drama. Die könnten sich mal ein bisschen anstrengen. Ich fände das sogar gut.