Junge Menschen in NRW, die mit der islamistischen Szene sympathisieren, sowie ihr soziales Umfeld können von nun an anonym mit Beratern chatten.
PräventionsprogrammNRW will Jugendliche mithilfe eines Live-Chats vom Islamismus fernhalten
Die Mitarbeiter von „Wegweiser“ bieten Beratung nun auch anonym über eine Chat-Funktion an. NRW-Innenminister Herbert Reul und Landesverfassungsschutzchef Jürgen Kayser stellten den Ausbau des Islamismus-Präventionsprogrammes am Mittwoch in Düsseldorf vor. „Das Internet ist die Nummer eins wenn es darum geht, junge Leute für radikales Gedankengut zu gewinnen“, sagt Reul. „Prävention muss da beginnen, wo auch Radikalisierung beginnt.“ NRW sei das erste Bundesland, in dem ein solcher Live-Chat an den Start geht.
Unterstützung auch für Eltern und Lehrer
Auf der Webseite von „Wegweiser – Stark ohne islamistischen Extremismus“ können Ratsuchende anonym mit einem Mitarbeiter des Programmes schreiben. Der Live-Chat ist montags bis freitags von 10 bis 22 Uhr und an Wochenende von 14 bis 20 Uhr besetzt. Sollten sich andere Zeiten als sinnvoller erweisen, so Kayser, werde man die Schichten ändern. Zielgruppe sind vor allem Jugendliche, die mit der islamistischen Szene sympathisieren. „Wegweiser“ unterstützt jedoch auch Eltern, Freunde und Lehrkräfte, die befürchten, eine junge Person in ihrem Umfeld könnte sich radikalisieren.
„Wir sprechen momentan sehr viel darüber, wie wir Bilder wie Anfang November in Essen verhindern können“, sagt Reul und bezieht sich auf islamistische Parolen auf eine Pro-Palästina-Demo. „Die Antwort kann nicht nur Verbote und strengere Auflagen sein, es gehört auch Prävention und Aufklärung dazu. Wir müssen dorthin gehen, wo erstens junge Leute sind und zweitens da sein, wo sie radikalisiert werden.“ Die extremistische Organisation „Generation Islam“ verfüge in den sozialen Medien über 74.000 Follower. Die großen Massen könne man nur über das Internet gewinnen, sagt Reul. „Deshalb müssen wir auch ins Netz.“
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Chatmodul speichert keine persönlichen Daten
Die Realisierung des Live-Chats nahm circa drei Jahre in Anspruch. „Das war länger, als wir uns vorgestellt haben“, gibt NRW-Verfassungsschutzchef Kayser zu. Die Umsetzung habe ungefähr eine halbe Million Euro gekostet. „Wir mussten einen Chat aufsetzen, der alle Sicherheitsanforderungen erfüllt.“ Die Berater chatten mit den Menschen schließlich über höchstpersönliche Themen, über Ängste und politische Ansichten. Deshalb sei das System beispielsweise von einem professionellen Hacker geprüft worden.
„Der Ratsuchende kann völlig anonym bleiben“, so Kayser. Nutzer müssen keine Namen und kein Geburtsdatum angegeben werden, das Chatmodul erhebt und speichert keine IP-Adressen. „Nur so verdienen die Wegweiser das Vertrauen.“
Neben der Internetseite startet „Wegweiser“ eine Kampagne über Plakate und Apps, um auf die Beratung aufmerksam zu machen. „Wegweiser“ ist künftig auch auf YouTube, Instagram und Facebook zu finden.
Zahl der Beratungen stieg dieses Jahr stark an
„Wegweiser“ wurde 2014 in NRW gegründet. Heute arbeiten an 25 Standorten über 80 Sozialarbeiter, Pädagogen, Islam- und Sozialwissenschaftler. Seit der Gründung hat „Wegweiser“ 40.000 Anfragen bearbeitet und 1500 direkt betroffene Menschen beraten, so Kayser. Ungefähr 70 Prozent von ihnen waren minderjährig. Der Beratungsbedarf sei in diesem Jahr stark in die Höhe geschnellt: In den ersten drei Quartalen des Jahres 2023 stieg die Zahl der Beratungsgespräche mit direkt Betroffenen um 35 Prozent an.
Ein Großteil der Anfragen kommt aus Schulen. „Meistens geht es um eine Einordnung“, sagt Samy Charchira, Mitbegründer des Standortes in Düsseldorf. „Das ist für uns der erste wichtige Schritt. Damit wir eine Gefahr nicht übersehen, gleichzeitig aber nicht stigmatisieren.“
„Wegweiser“ bieten Workshops in Schulen an
Im Sommer seien homophobe Äußerungen von Schülern ein häufiger Grund für Anfragen gewesen, erzählt ein Berater, der anonym bleiben möchte. Momentan stehen viele der Hilfegesuche im Zusammenhang mit dem Krieg im Nahen Osten. Wenn auch die „Wegweiser“ eine Radikalisierung von Schülern befürchten, bieten sie häufig einen Workshop mit der gesamten Klasse an. „Dabei haben wir die zwei, drei Schüler, um die sich die Anfrage drehte, schon im Blick und versuchen, den Kontakt herzustellen“, sagt Charchira. „Wir versuchen, mit Fragen zu provozieren, Rede und Gegenrede herzustellen.“ Im Idealfall folge danach eine Beratung außerhalb der Schule.
Durch die Chat-Funktion will das Team in Düsseldorf die Hemmschwelle für Nutzer senken. „Bisher machen wir offline-Beratung“, sagt der Mitarbeiter. „Jetzt hoffen wir, junge Menschen zu erreichen, die uns nicht persönlich kontaktieren würden.“