Als Kinder wurden sie vergewaltigt und für Medikamentenversuche missbraucht. Viele haben den Glauben an das Gute im Menschen dennoch nicht verloren.
„Wir lassen niemanden allein“Opfer-Community gibt ehemaligen Heimkindern Kraft – Zu Besuch bei einer besonderen Weihnachtsfeier
Es ist ein großer Auftritt für Klaus-Dieter, denn er ist an diesem Tag der Nikolaus. „Frohes Fest“, sagt der 72-Jährige, und reicht Annemarie eine Schachtel Pralinen. Annemarie lächelt. Die 85-Jährige sitzt an dem festlich gedeckten Tisch vor einem Stück Kiwi-Sahnetorte. Es duftet nach frischem Kaffee, die Kerzen im Adventskranz leuchten warm. Die Weihnachtsfeier ist gut besucht, die Welt scheint in dieser Senioren-Runde in Ordnung zu sein. Zumindest in diesen Stunden. Über dem Eingang hängt eine Neonbeleuchtung „1. Heimkinder-Community NRW e.V.“, steht darauf.
Nikolaus Klaus-Dieter hat viel zu tun. Denn die Weihnachtsfeier ist sehr beliebt. Etwa 80 Mitglieder aus ganz Nordrhein-Westfalen sind zusammengekommen. „Die meisten haben keine Angehörigen, müssen sehen, wie sie über die Runden kommen“, berichtet Helferin Astrid. Das Schicksal, in der Nachkriegszeit in einem Kinderheim aufgewachsen zu sein, hat ihren Lebensweg geprägt. Viele sind bis heute traumatisiert und leiden unter massiven Gesundheitsschäden.
Der Umgang mit Heimkindern gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte der Bundesrepublik. Es macht fassungslos, wie sich die menschenverachtende Behandlung der Nationalsozialisten mit vermeintlich „asozialen“ und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen nach dem Ende des NS-Regimes fortsetzte. Niemand entwickelte ein Störgefühl, als die Pharmaindustrie an die überwiegend konfessionellen Einrichtungen mit dem Anliegen herantrat, Medikamente an den Schutzbefohlenen testen zu dürfen. Ein unglaublicher Vorgang: Tausende Minderjährige als Versuchskaninchen, an denen die Wirkung neuer Präparate ausprobiert wurde. Die Präparate waren bei den Kindern medizinisch nicht indiziert. Sie hatten Nebenwirkungen, die zu langfristigen Schäden führten. Manche halten ein Leben lang an.
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Psychopharmaka, Schlaftabletten, Neuroleptika, Beruhigungsmittel - getestet an Kindern
Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass in Westdeutschland mindestens 80 Versuchsreihen mit Psychopharmaka, Schlaftabletten, Neuroleptika und Beruhigungsmitteln an Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurden. Ein standardisiertes Zulassungsverfahren für Medikamente wurde erst im Jahr 1976 im Arzneimittelgesetz verbindlich gemacht. Die Pharmahersteller verweigern Entschädigungszahlungen mit dem Hinweis, sie hätten nicht gegen geltendes Recht verstoßen. Eine Argumentation, mit der sich Uwe Werner nicht abfinden will. „Die Verantwortlichen haben schwere Schuld auf sich geladen“, sagt er als ehemaliges Heimkind.
Der 72-Jährige gründete die Opfer-Community im August 2015. Er war im Evangelischen Kinderheim Westuffeln in Werl sexuell missbraucht und mit Medikamenten vollgestopft worden. Uwe Werner nahm den Kampf mit dem Landschaftsverband Rheinland auf und erstritt sich eine Entschädigung. Von diesem Erfolg ermutigt, investierte Werner einen Großteil der Summe, die er aus dem Opferfonds erhalten hatte, um andere Betroffene zu finden und auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. „Ich habe Flyer in Obdachloseneinrichtungen und am Bahnhof verteilt“, berichtet er. „Viele haben nach der Entlassung aus dem Heim die Kurve nicht mehr bekommen.“
Heimkinder: allen Formen von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt
In NRW waren zwischen 1945 und 1975 mehr als 100.000 Menschen in Heimen untergebracht. Viele waren dort allen Formen von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt. Arrest, Essensentzug, stundenlanges Stehen, Schlafentzug und die Drohung, unter eine kalte Dusche gestellt zu werden, gehörte für viele zum Alltag. Vor allem Kinder, die keinen Kontakt zu ihren Angehörigen hatten, wurden von Heim-Ärzten als Probanden für die Experimente herangezogen. Der Opfer-Verein setzt sich dafür ein, dass Schmerz und Unrecht wiedergutgemacht werden. Oft ein Kampf gegen Windmühlen.
Denn: Das Opferentschädigungsgesetzt baut hohe Hürden, bevor Gelder fließen können. So sollen Betroffene dezidierte Angaben zu Tatorten und Tatzeiten machen. Diese sind heute aber kaum noch nachvollziehbar. So bleibt den Opfern meist nur die Hoffnung, aus dem Entschädigungsfonds der Kirchen eine einmalige Ausgleichszahlung zu bekommen. „Viele wurden mit einer mittleren vierstelligen Summe abgespeist“, sagt Uwe Werner. Nicht viel Geld, wenn einem das ganze Leben verpfuscht wurde. „Der Orden der Vinzentinerinnen in Köln und das Erzbistum Köln beteiligen sich eiskalt nicht an den Anerkennungsverfahren.“
Uwe Werner: „Vinzentinerinnen und das Erzbistum Köln beteiligen sich eiskalt nicht an den Anerkennungsverfahren“
Nach der Bescherung nimmt sich der Nikolaus Zeit, um über seine Kindheit im Heim zu berichten. Das fällt ihm nicht leicht. „Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich mich an das Heim erinnere“, sagt Klaus-Dieter, und schiebt zum Beweis den Ärmel seines Pullovers hoch. Er war in der evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach untergebracht. „Dreimal am Tag habe ich unterschiedliche Pillen schlucken müssen“, erinnert sich der Mann aus Viersen. Bei den „Pillen“ handelte es sich um das Medikament „Tavor“. Der Wirkstoff, der Menschen sedieren soll, wurde 1971 entdeckt. Heute zählt Tavor zu den am häufigsten verordneten Psychopharmaka in Deutschland.
Klaus-Dieter kommt mehrmals in der Woche in das Vereinslokal. Jeden Tag gibt es dort ab 9 Uhr morgens Frühstück, mittags bereitet Koch Oli ein gesundes Mittagessen zu. Viele Männer können nicht richtig kochen und sind froh, wenn sie etwas Warmes auf den Tisch bekommen. „Für viele zählt die Geselligkeit“, berichtet Joachim, der eine Schiebermütze trägt. Niemand müsse sich schämen, wenn er nicht lesen und schreiben kann.
Dem 64-Jährigen wurde in einem Bethel-Kinderheim in Herford, das von der evangelischen Kirche betrieben wurde, Medikamente eingeflößt. „Danach fühlte es sich so an, als ob ich fliegen könnte“, erinnert sich Joachim. Unter der Dusche sei er mehrfach sexuell missbraucht worden, sagt er leise. „So was schüttelt man nicht mehr ab. Ich führe ein einsames Leben.“
Joachim kommt auch mehrmals im Monat von Castrop-Rauxel nach Mönchengladbach. Eine lange Fahrt. „Der Uwe ist ein toller Gesprächspartner für mich. Der hat immer einen guten Rat auf Lager. Hier fühle ich mich ungezwungen und muss mich nicht verstellen. Die Gemeinschaft gibt mir Kraft.“
Die besinnliche Stimmung bei der Weihnachtsfeier wirkt anrührend. Obwohl die ehemaligen Heimkinder oft in kirchlichen Einrichtungen misshandelt und missbraucht wurden, haben viele ihren Glauben an das Gute im Menschen nicht verloren. Für sie ist das Vereinslokal am Niederrhein zu einem Ankerpunkt geworden. „Wir lassen niemanden im Stich“, sagte Uwe Werner.
Auch Harald, der eine runde dunkle Sonnenbrille trägt, kommt regelmäßig in das Vereinslokal. Er war von 1961 bis 1971 im „Franz-Sales-Haus“ in Essen untergebracht, einem Heim für Menschen mit Behinderungen. Er musste jahrelang ohne Lohn als Schreiner arbeiten. „Die haben mir gesagt, ich wäre geistig hinter dem Mond“, erinnert sich Harald. Eine fatale Fehleinschätzung. Der heute 73-Jährige arbeitete nach seiner Entlassung aus dem Heim als Facharbeiter, zuletzt in einem Edelstahlwerk. Auch seine künstlerische Begabung wurde völlig verkannt. In der Vereinszentrale hängt eine Schraffur, die den Kölner Dom zeigt. Nur ein Werk von vielen, die Harald geschaffen hat. Der Anblick ist für Uwe Werner ein täglicher Ansporn: „Das Bild ist der beste Beweis dafür, wie man Harald um sein Leben betrogen hat.“