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Sexueller MissbrauchErzbistum Köln will bei Schadensersatzklagen nicht für Mitarbeiter haften

Lesezeit 9 Minuten
Ein Schriftzug am Vordach weist auf das Landgericht Köln hin.

Der Eingang zum Landgericht Köln

Das Landgericht Köln verhandelt über zwei Schadensersatzklagen von Missbrauchsopfern gegen das Erzbistum Köln. Die Kirche sieht sich nicht in der Haftung für die Vergehen.

Es kommt in Deutschland nicht allzu oft vor, dass Bischöfe als Zeugen vor Gericht erscheinen müssen. In Köln ist es inzwischen Tradition. Nach dem Hamburger Oberhirten Stefan Heße 2022 und dem Kölner Kardinal Rainer Woelki im Jahr darauf ist als dritter nun Heiner Koch an der Reihe, der Erzbischof von Berlin. Die Verfahren sind sehr verschieden, haben aber alle mit dem Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln zu tun, aus dem die drei hochrangigen Kleriker stammen.

Am Dienstag soll der 70 Jahre alte Koch dem Landgericht mitteilen, was er aus seiner Zeit als Priesteranwärter über den Aufenthalt zweier Kinder im Kölner Priesterseminar Ende der 1970er Jahre weiß. Es geht um die Schadensersatzklage der heute 58 Jahre alten Melanie F. gegen das Erzbistum. Entgegen allen Usancen hatte Kardinal Joseph Höffner dem Priesterkandidaten und späteren Kaplan Hans Ue. erlaubt, die damals Zwölfjährige und einen 14 Jahre alten Jungen aus einem Bonner Heim zu sich zu holen. Auch das Jugendamt stimmte zu. In den folgenden Jahren missbrauchte der 2022 als Serientäter zu zwölf Jahren Haft verurteilte Ue. seine Pflegetochter ungezählte Male aufs Schwerste. Zweimal wurde sie von ihm schwanger. Beim ersten Mal, Melanie F. war 15, veranlasste Ue. eine Abtreibung, ohne dass die Jugendliche auch nur im Ansatz wusste, was beim Gynäkologen mit ihr geschah.

Kirchenanwälte sprechen von Taten in der Freizeit

Im Zivilprozess geht es um die Frage der Amtshaftung: Muss das Erzbistum – ähnlich wie ein öffentlicher Dienstgeber – für die Vergehen seines Priesters einstehen? Die Kirchenanwälte bestreiten das. Hans Ue. habe die Taten nicht in Ausübung seines Amts begangen, sondern in seiner Freizeit. Melanie F. hat dafür ein gänzlich unjuristisches Wort parat: „Schwachsinn.“ Der Missbrauch im Pfarrhaus fand nach ihrer Schilderung „immer samstags statt, zwischen Beichte und Abendmesse“. Freizeit? Anschließend nahm Ue. auch ihr die Beichte ab: Deine Sünden sind dir vergeben. „Für mich“, sagt Melanie F., „war er immer Priester. Wir waren – die Kinder des Kaplans.“

Alles zum Thema Erzbistum Köln

Im bisherigen Prozessverlauf ist die 5. Zivilkammer des Landgerichts der Sicht der Kirche gefolgt – wie zuvor schon andere Gerichte. Im Fall des Schauspielers Kai Christian Moritz, bis vor Kurzem im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz engagiert, kam es allerdings erst gar nicht zu einem Prozess. Auch der 1976 geborene Moritz war als Kind bei einem Priester in Obhut – einem Cousin, der den Jungen nach dem Tod der Mutter zu sich nahm. Als Moritz sich mit Anfang 30 wegen der an ihm begangenen Verbrechen an das zuständige Bistum Limburg wandte, bekam er dort erklärt, die Vormundschaft sei Sache des Jugendamts gewesen. Und was die Zustimmung des Bistums betrifft: Der Geistliche habe „so lieb gefragt“, dass man ihm die Bitte nicht habe abschlagen können. Auf einen Vergleich mit Moritz wollte sich das Bistum später nicht einlassen. Er könne ja klagen – und dann zusehen, ob ein staatliches Gericht die Amtshaftung der Kirche bejaht. Dazu sah sich Moritz aber aus verschiedenen Gründen nicht imstande.

Unerhörte Summe von 300.000 Euro

Anders der ehemalige Messdiener Georg Menne. Als Missbrauchsopfer eines Priesters sprach ihm das Landgericht Köln im Jahr 2023 Schmerzensgeld und Schadensersatz von 300.000 Euro zu. Die bis dato unerhörte Summe trieb in der Folge auch die freiwilligen Zahlungen der Kirche an Betroffene in Höhen, mit denen die Bischöfe nicht gerechnet haben dürften, als sie 2021 die „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen“ (UKA) ins Leben riefen. Die Obergrenze in den außergerichtlichen Verfahren gab der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing (Limburg), seinerzeit mit 50.000 Euro an. Überschreitungen in begründeten Ausnahmefällen seien möglich, Orientierungsgröße die Summen, die von staatlichen Gerichten in vergleichbaren Fällen festgelegt werden.

Das 300.000-Euro-Urteil im Fall Menne führte – so gesehen – auf Neuland. Die Kölner Richter blieben allerdings immer noch deutlich unter der anwaltlichen Forderung von 750.000 Euro. Für eine Berufungsklage mit dem Ziel, einen noch höheren Betrag zu erreichen, fehlte Menne seinerzeit die Kraft.

Der Klägerin geht es nicht ums Geld

Melanie F. verlangt jetzt insgesamt 850.000 Euro. Es gehe ihr aber nicht ums Geld, betont sie im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, sondern um Gerechtigkeit, um Verantwortung. Und um den Glauben. „Ich möchte, dass die Kirche den Glauben in Reinheit vermittelt, so wie es Jesus vorgelebt hat. Das kann sie aber nicht, wenn sie sich ihrer Schuld beim sexuellen Missbrauch nicht stellt.“

Juristisch spannend ist vor allem der Streit über die Amtshaftung. Führende Staats- und Kirchenrechtler halten die Position des Erzbistums für haarsträubend. Die Unterscheidung zwischen Amts- und Privatperson bei einem katholischen Geistlichen greife nach dem katholischen Priesterbild nicht, schreiben der Kölner Juraprofessor Stefan Rixen und sein Bonner Kollege für Kirchenrecht, Norbert Lüdecke, in einem Beitrag für den „Verfassungsblog“.

Genüsslich zitieren sie aus einer Predigt des früheren Kölner Kardinals Joachim Meisner aus dem Jahr 2010 zum Silbernen Priesterjubiläum des damaligen Weihbischofs Rainer Woelki: Den Priester könne es „nie privat geben“, er sei „entprivatisiert“ in den Raum der Kirche hinein. Der Priester „trägt die Verbindung Gottes mit den Menschen leibhaftig, unkündbar und unauflösbar in seinem Dasein. Das ist sein Stigma. Davon gibt es keine Beurlaubung. Für den Priester gibt es keine Möglichkeit, aus diesem Bündnis, aus dieser Verbindung auszusteigen, weder auf Zeit noch für immer, weil Gottes Liebe zu uns Menschen unwiderruflich ist. Darum gibt es für uns Priester auch keine bündnisfreien Tage, weil Gottes Treue keine Unterbrechung kennt. Der Priester ist die Fleisch gewordene Bündnistreue Gottes zu uns Menschen.“

Wann schlüpft der Priester in die Haut des Privatmanns?

Anders, nüchterner gesagt: Ein Priester ist immer im Dienst – auch und gerade in der „pastoralen Sorge um die Hilfsbedürftigen“, hier konkret um Melanie F. und ihren Pflegebruder, so Rixen und Lüdecke. Kardinal Höffner habe seine Zustimmung zur Pflegschaft „erklärtermaßen mit Blick auf das Kindeswohl erwogen und erteilt. Damit hat er kraft seiner Amtsgewalt die pflegschaftliche Sorge um das Mädchen in den Aufgabenkreis seines Klerikers einbezogen.“

Für eine etwaige Bewertung der Missbrauchsvergehen als Privatangelegenheit des Täters, sagt F.s Anwalt Eberhard Luetjohann grimmig, müsste das Gericht schlüssig „die logische Sekunde“ bestimmen, in der die Privatperson Ue. in die Haut des Priesters Ue. schlüpfte – und umgekehrt.

Insider bezweifeln, dass bei Erzbischof Koch etwas zu holen ist

Das Landgericht hat erkennen lassen, es könnte die Amtshaftung des Bistums doch noch in Erwägung ziehen, wenn sich erwiese, dass die Verantwortlichen früh von einem fragwürdigen Umgang Ue.s mit seiner Pflegetochter wussten. Darum nun die Ladung des Zeugen Koch mit der Frage, ob er Melanie F.s Aussage bestätigen kann, dass sie schon im Priesterseminar in einem Zimmer mit Ue. übernachtet hat.

Insider bezweifeln, dass aus Sicht der Klägerin hier bei Koch etwas zu holen ist. Allerdings steht außer Zweifel, dass die Kinder mit Ue. auf engstem Raum unterm Kirchendach lebten, als der angehende Priester den letzten Teil seiner Ausbildung als Diakon in einer Gemeinde absolvierte.

Klage einer ehemaligen Messdienerin

Direkt vor dem Fall Melanie F. verhandelt die Kammer über eine weitere Forderung nach Schadensersatz. Auch hier geht es um 850.000 Euro. Klägerin ist eine ehemalige Messdienerin. Die heute 38-Jährige war sechs, als ein damals 18 Jahre alter ehrenamtlicher Gruppenleiter sie erstmals missbrauchte. Der Täter wurde 1998 zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Fall ist auch im Kölner Missbrauchsgutachten des Strafrechtlers Björn Gercke enthalten.

Ende Januar erließ das Gericht einen „Hinweisbeschluss“, der im Kontext der Frage nach der Amtshaftung als spektakulär bezeichnet werden darf: Der Messdienerleiter sei „als Verwaltungshelfer im Dienst des Erzbistums“ anzusehen, seine Tätigkeit als „Ausübung eines öffentlichen Amts einzuordnen“ und dem „seelsorgerischen Bereich zuzuordnen“. Das Erzbistum müsse deshalb für die Missbrauchstaten des jungen Mannes einstehen, auch wenn er kein hauptamtlich Beschäftigter war. Das Gericht nennt ihn einen verlängerten Arm des Pfarrers.

Ministrantenarbeit ist Wesenselement katholischer Jugendseelsorge

Die Bistumsanwälte halten dagegen. Zum einen sei die Messdienerarbeit Sache der jeweiligen Gemeinden, nicht des Bistums. Klägerinnen-Anwalt Luetjohann nennt diese Trennung der Organisationsebenen „absurd“. Zum anderen wollen die Anwälte des Bistums den Begriff „Seelsorge“ unter Zuhilfenahme einschlägiger Online-Lexika auf die persönliche geistliche Begleitung beschränkt wissen. Ein Messdienerleiter sei demzufolge kein Seelsorger. Und auch die Tätigkeit als Messdiener oder Messdienerin selbst falle nicht in den Bereich der Seelsorge. Auf der ganzen Welt hielten Priester regulär Gottesdienste ab, ohne dass Ministranten ihnen am Altar assistierten.

Wenn schon nicht den vom Bistum beauftragten Juristen, so müssten solche Argumente zumindest den verantwortlichen Theologen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die kirchenamtlichen Ausführungen auch aus dem Erzbistum Köln zur Ministrantenarbeit als Wesenselement katholischer Kinder- und Jugendseelsorge sind Legion.

Erzbistum Köln hat auf die Einrede der Verjährung verzichtet

Dass die beiden Verfahren in Köln überhaupt stattfinden, ist im Übrigen nicht selbstverständlich. Das Erzbistum Köln hat, wie schon im Fall Menne, auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Es wolle sich, so die Bistumsanwälte, „seiner Verantwortung stellen“. Dem Vernehmen nach sollen für diese Entscheidung aber auch das Augenmerk der Öffentlichkeit auf Kardinal Rainer Woelki und der daraus resultierende Druck eine Rolle gespielt haben.

Wie Köln hat auch das Bistum Essen in einem anderen, vielfach beschriebenen Fall, der ab Anfang April verhandelt werden soll, den Weg zu einem Prozess freigemacht. Dagegen zogen Bistümer wie Aachen, Hildesheim und Regensburg die Verjährungskarte: Wenn Missbrauchsopfer abseits des von der Kirche etablierten UKA-Verfahrens die staatlichen Gerichte anrufen, so die Begründung, dann sei es nur recht und billig, dass auch die Kirche die verfügbaren Rechtsmittel nutzt.

Erst vertuschen, dann auf Verjährung pochen?

Unter Juristen ist allerdings umstritten, ob das Pochen der Kirche auf Verjährung überhaupt statthaft ist: Immerhin war das System der Vertuschung über Jahrzehnte hinweg just darauf gerichtet, Missbrauchstaten zu verheimlichen und der gerichtlichen Verfolgung dauerhaft zu entziehen. Darf die dafür verantwortliche Institution dann davon profitieren, dass ihr die Vertuschung über all die Jahre bis über die Verjährungsgrenze hinaus gelungen ist?

Der Ruf, die Kirche solle um der Gerechtigkeit willen generell auf die Einrede der Verjährung verzichten, findet in der Bischofskonferenz gegenwärtig kein Gehör. Die geplante Übergabe einer Petition mit 88.000 Unterschriften bei der Frühjahrsvollversammlung der Bischöfe Mitte März kam nicht zustande. Für ein begleitendes Gespräch mit den Initiatoren aus rund 20 Opfer-Vertretungen habe die Tagesordnung keine Zeit gelassen, sagte eine Sprecherin der Bischöfe. Am Rande der Konferenz sei es aber zu einem Treffen und einem Austausch über die Anliegen der Betroffenen gekommen.

Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“ macht derzeit vier Strategien aus, wie die Kirchenanwälte den Klagen von Missbrauchsopfern vor Gericht entgegentreten. Dazu zählen eben die Einrede der Verjährung und die Verneinung der Amtshaftung. Daneben würden drittens die Taten selbst angezweifelt oder – im Juristendeutsch – „mit Nichtwissen bestritten“, so dass die Beweisführung voll zulasten der Kläger geht. Und viertens forderten die Anwälte den Nachweis, dass körperliche und seelische Schäden der Betroffenen wirklich Folge des erlittenen Missbrauchs sind. „Das alles“, sagt Katsch im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, „wirkt maximal abschreckend“. Auch deshalb seien die beiden Kölner Prozesse eher die Ausnahme. „Die Klageflut, die manche nach dem Menne-Urteil mit den 300.000 Euro Schadensersatz erwartet haben, ist jedenfalls ausgeblieben.“