Die Schmerzensgeldklage eines Missbrauchsopfers von Priester Ue. gegen das Erzbistum Köln zeigt menschliche Abgründe, aber es geht um viel mehr.
„Meine Emotionen sind zerstört worden“Melanie F. wurde von Priester missbraucht – Das fordert sie vom Erzbistum Köln
Achtung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt an Kindern
„Wir waren die Kinder des Kaplans. Das war einfach so.“ Melanie F. sitzt im Wohnzimmer von Rechtsanwalt Eberhard Luetjohann. Äußerlich wirkt die 57-Jährige ruhig, fast unbewegt. Die tonlose Stimme, mit der sie aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt, steht in seltsamem Gegensatz zur Dramatik der Geschehnisse. Sie fallen in die Kategorie jener Geschichten, von denen man klischeehaft sagt, einem Drehbuchautor hätte man sie um die Ohren gehauen: zu unglaubhaft.
Doch Melanie F.s Geschichte ist wahr. Sie handelt von einem vernachlässigten Heimkind, das sich allen verweigert, die Zugang zu ihr suchten. Und von einem angehenden Priester, der sich um sie und einen zwei Jahre älteren Jungen kümmert und die beiden nach seiner Weihe zum Diakon als Pflegekinder zu sich nimmt – scheinbar aus Zuneigung, aus Fürsorge, um die Kinder aus ihrer Misere zu holen, ihnen eine bessere Zukunft zu eröffnen.
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Pflegetochter wurde erstes Missbrauchsopfer des Kölner Priesters Hans Ue.
Tatsächlich wurde die eigene Pflegetochter das erste Opfer des Priesters Hans Ue. in einer jahrzehntelangen Missbrauchsserie. Sie endete erst 2019 im Zuge von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Ue., die 2022 zu einer Verurteilung zu zwölf Jahren Haft führten. Im Juli 2023 folgte Ue.s Entlassung aus dem Klerikerstand, die Höchststrafe für einen Geistlichen in der katholischen Kirche.
Als Melanie F. zum ersten Mal davon erzählte, was Ue. ihr angetan hatte, stand sie als Zeugin vor Gericht. Im Strafprozess am Landgericht Köln ging es um Ue.s Vergehen an drei Nichten und einer weiteren Jugendlichen. Melanie F. sollte eigentlich nur Licht in Ue.s frühe Zeit als junger Geistlicher bringen. Dass sie selbst Opfer war, wusste bei ihrer Vorladung kaum jemand. Sie habe vor langer Zeit beschlossen, die Vergangenheit in ihrem Inneren zu vergraben, erklärte sie dem Vorsitzenden Richter Christoph Kaufmann damals.
Anwalt sieht Erzbistum Köln in Amtshaftung
Inzwischen spricht sie über ihren Missbrauch. Auch öffentlich. Melanie F. hat das Erzbistum Köln auf Schmerzensgeld verklagt. Ihr Anwalt fordert für sie eine Gesamtsumme von 850.000 Euro. Dabei spiele das Geld für sie keine Rolle, betont Melanie F. „Ich will, dass die Kirche Verantwortung übernimmt. Sie muss sich verändern, und sie muss aufhören, ihre Macht zu missbrauchen.“ Das Erzbistum stehe in Amtshaftung für Ue.s Taten und sei in diesem Fall selbst „mittelbarer Täter“, sagt Luetjohann, weil es versäumt habe, auf Ue. aufzupassen und so zu verhindern, dass es zu den Verbrechen an seiner Pflegetochter kam.
Melanie F. lernt Hans Ue. 1977 im katholischen Waisenhaus Maria im Walde auf dem Venusberg in Bonn kennen. Der Theologiestudent ist dort ehrenamtlich als Betreuer tätig. Nach und nach gewinnt er einen Zugang zu dem verschlossenen Kind. Nach einer Ferienfreizeit in Italien schenkt er ihr ein Kätzchen, das sie bei sich im Zimmer haben darf. Das bricht das Eis. Später nimmt er sie und den zwei Jahre älteren Erwin G. mit zu seiner Familie in Köln. Die beiden besuchen Ue. auch im Bonner Priesterseminar, sollen dort mit Wissen der Verantwortlichen in Ue.s Zimmer übernachtet haben. „Irgendwann hat er gefragt, ob wir nicht ganz mit ihm kommen wollten.“
Pflegetochter schlief mit Priester in einem Bett
In der Zeit von Ue.s Diakonats in Alfter 1979 leben Melanie F. und ihr Wahlbruder Erwin dann mit Ue. unter einem Dach. Das Mädchen schläft mit Ue. in einem Bett, der Junge in einem anderen Raum. Auf Drängen Ue.s gestattet der damalige Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, dass Ue. die Kinder auch nach seiner Priesterweihe 1980 bei sich behalten und das Sorgerecht übernehmen darf. „Hierbei handelte es sich um einen bis dahin im Erzbistum Köln noch nie vorgekommenen Vorgang“, heißt es dazu im Strafurteil des Landgerichts Köln. Höffner stellt zwei Bedingungen: Melanie F. müsse noch getauft werden, und Ue. solle eine Haushälterin einstellen. Letzteres geschieht nicht, wird vom Erzbistum aber auch nie eingefordert.
„Das hätte alles geändert“, glaubt Melanie F. „Dann hätte er es nicht gewagt.“ Es – das ist fortgesetzter schwerster sexueller Missbrauch. Die Übergriffe beginnen schon in Alfter. „Recht zügig“, sagt Melanie F. Ue. lässt die 13-Jährige Cointreau trinken, macht sie so gefügig. Er geht nackt mit ihr in die Sauna, lässt sie seinen erigierten Penis anfassen, führt den Glaszylinder einer Öllampe ein. „Ich war hilflos in der Situation“, sagt Melanie F. „Das war etwas, was man als Kind nicht zuordnen kann. Ich hatte keinerlei Informationen. Gehört das jetzt halt zum Leben?“
Missbrauch jeden Samstag „zwischen Beichte und Abendmesse“
Später, in Ue.s Kaplanswohnung in Türnich-Balkhausen, findet der Missbrauch bis zur Penetration meist in der Badewanne statt. „Immer samstags“, berichtet Melanie F., „zwischen Beichte und Abendmesse“. Aufkommende Abwehr des Mädchens überwindet Ue. mit Wettangeboten und mit subtilen Drohungen. Wenn sie es schaffe, ihn zehnmal nacheinander zu befriedigen, bekomme sie 1000 Mark, lockt er sie. Als sie sich ihm entziehen, von ihm loskommen will, bedeutet er ihr: Sie könne jederzeit gehen, aber ihre Katze werde er behalten. „Das war das Schlimmste, was hätte passieren können. Ohne meine Katze wäre ich nirgends hingegangen.“
Als 15-Jährige wird Melanie F. schwanger. Allerdings weiß sie selbst es nicht. Erst viel später wird ihr klar, dass der merkwürdige Termin beim Frauenarzt, zu dem Ue. sie bringt, nichts anderes war als eine Abtreibung. „Irgendwas“ sei an ihr „da unten“ gemacht worden, erinnert sie sich. „Und ich durfte nicht in die Nierenschale gucken.“
Mit 18 eine zweite Schwangerschaft nach Vergewaltigung
Mit 18 kommt es nach einer Vergewaltigung durch Ue. unter Drogeneinfluss erneut zu einer Schwangerschaft. Melanie F. raucht zu dieser Zeit exzessiv Haschisch. Sie hat eine Magersucht entwickelt, sich selbst mit Stecknadeln verletzt, die sie in ihre Beine treibt. Das Kind, das sie von Ue. erwartet, will sie nicht bekommen. Sie entscheidet sich für eine Abtreibung, merkt dabei, dass sie drei Jahre zuvor das Gleiche schon einmal erlebt hat.
„Das Schlimmste ist, dass das von einem Priester kam“, sagt Melanie F. „Ich frage mich oft: Was wäre mit mir passiert, wenn er keinen Arzt gefunden hätte?“ Die seelischen Spätfolgen der Abtreibungen sind gravierend. Schon bis Melanie F. Jahre später von ihrem damaligen Freund schwanger wurde, „war es ein Kampf“, sagt sie. Nach der ersten Geburt dann habe sie keine Kinder mehr bekommen können.
Missbrauchsopfer: Erzbistum Köln muss für Versagen geradestehen
1985, nach Abschluss der Berufsfachschule, zieht Melanie F. aus dem Pfarrhaus aus, lässt Hans Ue. hinter sich. Losgeworden ist sie die Jahre mit ihm nicht. „Meine Emotionen sind zerstört worden. Ich schotte rechts und links alles ab, gehe wie in einem Tunnel.“ Seit ihrer Jugend bekomme sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen, „weil ich dazu einfach nicht mehr in der Lage bin“. Bis heute, sagt sie, lacht sie so gut wie nie. „Das kann man irgendwo nicht, wenn man so etwas erlebt hat.“
Neben der Verantwortung des Täters sieht Melanie F. auch ein schuldhaftes Versagen seiner Vorgesetzten, für das die Kirche geradestehen müsse. Genau darum geht es im Schmerzensgeldprozess vor dem Landgericht Köln.
Anwälte des Erzbistums Köln bestreiten eine Amtshaftung
Die Anwälte des Erzbistums bestreiten eine Amtshaftung der Kirche für die an Melanie F. begangenen Verbrechen. Für die „Taten in der Wohnung des Pfarrers Ue.“ sei „ein Zusammenhang mit (kirchlichen) Dienstpflichten nicht ersichtlich“. Zwar habe Ue. seine Stellung als Pflegevater „auf schreckliche Weise ausgenutzt, ohne allerdings hierbei in Ausübung eines öffentlichen Amtes zu handeln“. Anders ausgedrückt: Der Missbrauch fand in Ue.s Freizeit statt.
Weiterhin sei das Erzbistum zu einer Kontrolle des Geistlichen „ohne konkreten Anlass nicht verpflichtet“ gewesen – und überhaupt wäre das Sache des Bonner Jugendamts gewesen, das Ue. das Sorgerecht für Melanie F. und Erwin G. übertragen hatte.
Verhandlung vor dem Landgericht Köln verschoben
Vorige Woche wurde ein für diesen Dienstag anberaumter Verhandlungstermin vor dem Landgericht Köln überraschend aufgehoben. Die zuständige fünfte Zivilkammer hatte F.s Anwalt einen sogenannten Hinweisbeschluss übermittelt. Darin scheint sich die Kammer vorläufig der Sicht des Erzbistums anzuschließen: Die Missbrauchstaten seien „ausschließlich außerhalb der Tätigkeit als Pfarrer im privaten Bereich als Pflegevater der Klägerin“ erfolgt.
Ohne begründeten Verdacht auf Missbrauch, den es bei Melanie F. seinerzeit nicht gegeben habe, hätte die Kirche nicht tätig werden müssen. Dass kirchliche Verantwortliche ihre Aufsichts- und Schutzpflicht verletzt hätten, habe die Klägerin „bislang nicht hinreichend dargelegt“.
„Ein Priester ist immer Priester“
Damit gibt das Gericht immerhin die Gelegenheit, hier nachzubessern. F.s Anwalt Eberhard Luetjohann zeigt sich entgeistert über die Positionierung des Gerichts. Es gebe den Priester nicht als Privatperson. „Ein Priester ist immer Priester.“ Das gehöre zum Wesensverständnis des geistlichen Amts in der katholischen Kirche. Zudem liege es auf der Hand, dass Ue. als alleinstehender Mann in den späten 1970er Jahren das Sorgerecht für Melanie F. und Erwin G. überhaupt nur bekommen habe, eben weil er Priester war.
Der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen, Mitglied in der Aufarbeitungskommission der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, pflichtet dem bei. Die Kirche betone in allen ihren Verlautbarungen die „Totalität“ des priesterlichen Amts. Außerdem zeige die ausdrückliche Zustimmung Kardinal Höffners zur Übernahme des Sorgerechts, dass Ue. als Amtsträger gehandelt habe. „Warum hätte der Erzbischof sich überhaupt einmischen sollen, wenn es rein um Ue.s Privatangelegenheiten gegangen wäre?
Kölner Staatsrechtler Rixen: keine Schutzvorkehrungen gegen „Brüder im Nebel“
Die Pflegschaft sei „nie Privatsache, sondern immer pastoraler Dienst“ gewesen, sagt auch Lothar Jaeger, ehemaliger Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Köln, ein Experte für Schmerzensgeldfragen. Ohne Kardinal Höffners Genehmigung „wäre dem Täter Ue. die Pflegschaft niemals erteilt worden“. Das Jugendamt habe die Kinder „in den pastoralen Dienst des Bistums“ übergeben, sie „der Organisation des Bistums anvertraut“.
Damit hätte für das Erzbistum nach Jaegers wie nach Rixens Auffassung auch eine allgemeine Kontrollpflicht bestanden. Es sei die „Pointe von Aufsicht“, dass sie nicht erst einsetzt, wenn ein Übergriff droht, erläutert Rixen. Auch schon in den 1970er/1980er Jahren hätten die Kirchenoberen über Kindesmissbrauch durch Priester Bescheid gewusst. Dass sie mit Blick auf ihre „Brüder im Nebel“ (Kardinal Joachim Meisner) überhaupt keine Schutzvorkehrungen ergriffen hätten, „verletzt die Mindestvorstellung von Dienstaufsicht“, so der Juraprofessor Rixen. Das Erzbistum, ergänzt Jaeger, habe im Fall von Melanie F. „unstreitig nichts kontrolliert. Es hat den Umgang des Täters mit den Kindern nicht einmal beobachtet. Damit hat es hier total versagt.“
Für die Auffassung des Gerichts, dass Ue. sie als Privatmann missbraucht habe, findet Melanie F. ein gänzlich unjuristisches Wort: „Schwachsinn“ sei das, sagt sie. „Wenn zuhause das Telefon klingelte, egal zu welcher Zeit, dann ging es immer um dienstliche Belange. Für mich war er immer Priester. Wir waren doch - die Kinder des Kaplans.“
Kind der katholischen Kirche ist Melanie F. übrigens immer noch. „Der Glaube ist wichtig. Das ist mir so gelehrt worden. Meinen Glauben habe ich nicht verloren.“ Und auch nicht die Hoffnung auf ein Stück Gerechtigkeit. Die Verhandlung über Melanie F.s Klage ist jetzt am 4. Juni angesetzt.
Präzedenzfall Menne
Melanie F. ist das zweite Missbrauchsopfer, das der Bonner Rechtsanwalt Eberhard Luetjohann vor Gericht gegen das Erzbistum Köln vertritt. Im ersten Fall erstritt er 2023 für den ehemaligen Messdiener Georg Menne eine Summe von 300.000 Euro.
Das Urteil markiert einen Wendepunkt in der Frage der Entschädigungen von Missbrauchsopfern durch die katholische Kirche. Nach 2010 hatten ihnen die Bischöfe zunächst pauschal 5000 Euro „in Anerkennung des Leids“ zugestanden. Eine Geste, eine symbolische Summe. Mit Geld, so das zentrale Argument, könne man so etwas Schreckliches wie Missbrauch nicht aufwiegen. Außerdem sollte der Eindruck vermieden werden, die Kirche wolle sich freikaufen.
Zehn Jahre später erweiterten die Bischöfe auf Druck der Betroffenen und der Öffentlichkeit den Finanzrahmen. Bis zu 50.000 Euro sollte es nun geben, festgelegt von Fall zu Fall durch eine „Unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids“ (UKA). Die Zahlungen sollten sich an dem orientieren, was deutsche Gerichte Opfern als Schmerzensgeld zuerkennen.
Lothar Jaeger, ehemaliger Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Köln, hält das für ein bloßes Konstrukt. Da es in der Rechtsprechung bislang praktisch keine Präzedenzfälle gegeben habe, sei die von den Bischöfen genannte Obergrenze von 50.000 Euro rein fiktiv gewesen.
Im Licht des Menne-Urteils hat die UKA ihre Entschädigungssummen inzwischen deutlich heraufgesetzt. Im zweiten Halbjahr 2023 erkannte sie in vier Fällen den Betroffenen eine Gesamtsumme von 1,6 Millionen Euro zu – im Durchschnitt also je 400.000 Euro. Noch zahlen die Bistümer die von der UKA festgesetzten Summe. Allerdings wachsen kirchlicherseits die Widerstände. So sträubte sich das Bistum Augsburg zunächst, einem Betroffenen die von der UKA vorgesehenen 150.000 Euro zu zahlen. Angesichts solcher Beträge müsse man das gesamte System der Anerkennungsleistungen noch einmal überprüfen, heißt es in Kirchenkreisen.
Melanie F. hat im Rahmen ihres UKA-Verfahrens 70.000 Euro erhalten. Sollte ihre Schmerzensgeldklage erfolgreich sein, würde dieser Betrag auf das vom Gericht festgelegte Summe angerechnet.