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Ex-Richter zu Entschädigungen der Kirche„Sexueller Missbrauch kann ein ganzes Leben zerstören“

Lesezeit 6 Minuten
Eine Installation mit Kinderfiguren, die mit Flatterband umwickelt sind, vor dem Kölner Dom erinnert an den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. (Archivbild)

Eine Installation mit Kinderfiguren, die mit Flatterband umwickelt sind, vor dem Kölner Dom erinnert an den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. (Archivbild)

Der ehemalige Richter Lothar Jaeger erklärt, warum die bisher gezahlten Schmerzensgelder für Opfer sexuellen Missbrauchs viel zu niedrig sind - und wie die Betroffenen an höhere Summen kommen.

Herr Jaeger, Sie haben ein Handbuch für Missbrauchsopfer und Anwälte geschrieben, das Forderungen von hohen Schmerzensgeldzahlungen erleichtern soll. Wo liegt in der Rechtspraxis das Problem?

Um hohe Schmerzensgelder für sexuellen Missbrauch zu begründen, müssen die Betroffenen das Geschehen und auch die Folgen bis in die Details darstellen und damit das in Worte fassen, worüber zu sprechen sie oft genug nicht in der Lage sind. Deshalb gebe ich den Opfern lange Listen an die Hand mit Tatumständen und möglichen Folgeschäden bis heute.

Außergerichtliche Einigungen sind einem Prozess immer vorzuziehen.
Lothar Jaeger

Wenn man das – vereinfacht gesagt – dann ankreuzen kann, reicht das als Beweis vor Gericht?

Zunächst einmal wird das Risiko einer Retraumatisierung gemindert, indem die Betroffenen sich nicht selbst noch einmal das Hirn zermartern müssen, sondern Vorgaben erhalten, mit denen sie ihre Erfahrungen abgleichen können. Im Zivilprozess stützt sich das Gericht auf Sachverständigen-Gutachten. Das Problem beginnt, wenn Richter meinen, sie könnten die Schwere psychischer Folgeschäden selbst ermessen und beurteilen. Das dürfte oftmals nicht der Fall sein.

Ist der Gang vor Gericht überhaupt der Königsweg? Die Kirchen haben ein eigenes Verfahren mit einer „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung des Leids“ (UKA) etabliert. Es soll den Opfern langwierige Prozesse ersparen, steht aber als intransparent selbst in der Kritik.

Außergerichtliche Einigungen sind einem Prozess immer vorzuziehen. Mit den Listen von Tatmerkmalen können sich Opfer natürlich ebenso gut an die UKA wenden. Seit dem Schmerzensgeldurteil des Kölner Landgerichts von 2023, das einem ehemaligen Messdiener wegen fortgesetzten Missbrauchs einen Betrag von 300.000 Euro zuerkannt hat, stehen ganz andere Summen im Raum. Die katholische UKA sagt, auf dieses Urteil ließen sich auch erneute Anträge stützen. Nur: Wenn man als Betroffener nicht besser beschreibt als bisher, wie es einem ergangen ist, dann wird man auch nicht viel mehr kriegen als bisher.

Betroffene brauchen den Prozessweg nicht zu scheuen.
Lothar Jaeger

Welchen Weg empfehlen Sie Betroffenen?

Die Juraprofessoren Stephan Rixen (Köln) und Jörg Scheinfeld (Mainz) haben ganz aktuell noch den außergerichtlichen Vergleich ohne UKA-Verfahren als vorzugswürdiges Verfahren ins Spiel gebracht. Da sage ich: Einverstanden – mit einer ganz wichtigen Einschränkung. Es muss ein „gerechter Vergleich“ sein, bei dem das Opfer nicht um der gütlichen Einigung willen auf die Hälfte seiner Ansprüche zu verzichten braucht. Im Übrigen brauchen Betroffene nach meiner Überzeugung den Prozessweg nicht zu scheuen: Wenn die UKA einen Missbrauchsfall als solchen anerkannt hat, müsste die Kirche im Prozess darlegen, warum die Entscheidung der von ihr selbst eingerichteten Kommission auf einmal falsch sein sollte.

Im Kölner Missbrauchsgutachten wird die Amtshaftung der Kirche im Grunde verneint. Das Landgericht Köln hat das im erwähnten Fall anders gesehen. Muss man jetzt damit rechnen, dass es bei den Gerichten ständig wechselnde Einschätzungen gibt?

Natürlich ist die Frage der Amtshaftung der Kirche nicht unumstritten. Nach überwiegender Auffassung ergibt sie sich aus dem Grundgesetz. Artikel 34 regelt: Für Pflichtverletzungen von Beamten haftet der Staat. Ersetzen Sie „Beamte“ durch „Kleriker“, dann gilt: Für deren Pflichtverletzungen haftet die Institution Kirche als Dienstgeber.

Ich zitiere sehr gerne Kardinal Meisner: ‚Es kann den Priester nie rein privat geben.‘
Lothar Jaeger

Auch dann, wenn es in der Freizeit eines Priesters zu Missbrauch kommt, wie unlängst das Landgericht Deggendorf festgestellt hat?

Dazu zitiere ich sehr gerne aus der Predigt von Kardinal Meisner zum silbernen Priesterjubiläum des heutigen Erzbischofs Rainer Woelki 2010: „Es kann den Priester nie rein privat geben ... Davon gibt es keine Beurlaubung ... Es gibt für den Priester keine bündnisfreien Tage.“ Da kann ich dem Kardinal nur recht geben: Ein Priester gilt vielen als „Mann Gottes“. Das endet nicht mit Dienstschluss oder mit dem Ablegen des Messgewands. Aus dieser besonderen Stellung folgt aber auch eine Machtposition, die Missbrauchstaten erleichtert und begünstigt. Und das muss sich dann die Institution zurechnen lassen, die dem Täter diese Macht verliehen hat. Es gibt dazu aber eine weitere schlagende Begründung.

Welche?

Wenn die UKA einen Missbrauchsfall anerkannt, ist das – juristisch betrachtet – eine „Schuldübernahme“ seitens der Kirche für das Vergehen eines Geistlichen.

Wir bewegen uns auf Neuland.
Lothar Jaeger

Aber es heißt doch immer: freiwillig, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.

Das ist glatt gelogen. Genau wie die bisherige Obergrenze von 50.000 Euro, mit denen sich die Kirche angeblich an Schmerzensgeld-Urteilen der staatlichen Gerichte orientiert hätten. Es gab bis zum erwähnten Kölner Fall aber bisher keine Schmerzensgeldurteile gegen Missbrauchstäter im Klerikerstand. Das Einzige, was wir hatten, waren einzelne Urteile zu Vergewaltigungsfällen. Das ist aber überhaupt nicht vergleichbar mit Missbrauch. Wir bewegen uns also auf Neuland.

Bei 300.000 Euro hat die Öffentlichkeit erkennbar aufgemerkt. So viel Schmerzensgeld gibt’s sonst nicht.

Doch. In der jüngsten Vergangenheit wurden mehrfach Summen um eine Million Euro festgesetzt. 800.000 Euro gab es zum Beispiel für den Verlust beider Unterschenkel. Dass körperliche und seelische Schäden als gleichrangig zu erachten sind, das ist inzwischen durch den Bundesgerichtshof und den Europäischen Gerichtshof klar und eindeutig bestimmt. Und das ist auch richtig so: Sexueller Missbrauch kann ein ganzes Leben zerstören.

Die Richter haben einfach nicht verstanden, was man unter einem psychischen Schaden versteht.
Lothar Jaeger

Im Fall des Kölner Messdieners hat das Gericht befunden, ihm gehe es heute doch augenscheinlich ganz gut: Er habe geheiratet, Kinder bekommen, einen Beruf ergriffen…

Diese Begründung ist völlig falsch. Die Richter haben einfach nicht verstanden, was man unter einem psychischen Schaden versteht.

Was ist mit der Verjährung lange zurückliegender Taten? Einzelne Bistümer haben angekündigt, sich bei Klagen von Missbrauchsopfern darauf zu berufen.

Die Einrede der Verjährung scheitert zum ersten daran, dass die katholische Kirche für sich in Anspruch nimmt, eine Institution der Moral zu sein. Angesichts eines eklatanten moralischen Versagens kann sie sich nicht auf Verjährung berufen. Zum zweiten verstößt es gegen die Kardinaltugend der Gerechtigkeit, wenn die Kirche verhindert, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Drittens hat die Kirche mit dem UKA-System ihre Verantwortung anerkannt. Damit ist juristisch die Verjährung obsolet. Sich dann im Zivilprozess doch wieder darauf zu berufen, verstößt gegen Treu und Glauben.


Lothar Jaeger war 14 Jahre Vorsitzender Richter eines Zivilsenats beim Oberlandesgericht (OLG) in Köln. Zur Frage des Schmerzensgelds hat Jaeger zusammen mit einem Richterkollegen ein juristisches Standardwerk verfasst.

In Kürze erscheint als Leitfaden für Missbrauchsopfer und Anwälte sein Buch: Sexueller Missbrauch. Wege zu hohen Anerkennungsleistungen und Entschädigungen. Die Veröffentlichung im Nomos-Verlag wurde durch eine Spendenaktion des Vereins „Umsteuern!“ ermöglicht.

Am 9. April verhandelt das Landgericht Köln über eine weitere Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum Köln. Die Pflegetochter des verurteilten Serientäters und ehemaligen Priesters Hans Ue. fordert für vielfachen sexuellen Missbrauch, der unter anderem zu zwei ungewollten Schwangerschaften mit folgender Abtreibung führte, insgesamt 850.000 Euro.