Mithilfe einer Karte visualisiert der Betroffenenbeirat des Erzbistums Köln das Ausmaß der sexualisierten Gewalt durch Kirchenmitarbeiter. 44 Tatorte sind dokumentiert.
Sexualisierte GewaltBetroffenenbeirat des Erzbistums Köln veröffentlicht Tatort-Karte
Von Ratingen im Norden des Erzbistums Köln bis Bad Münstereifel im Süden, von Elsdorf und Bedburg im Westen bis Wissen und Kirchen im Osten – das gesamte kirchliche Territorium mit seinen Städten und Gemeinden ist übersät mit signalroten Punkten. Sie bezeichnen insgesamt 44 Tatorte. Überall dort sind Kinder und Jugendliche Opfer sexualisisierter Gewalt durch Priester und andere Mitarbeitende der katholischen Kirche geworden.
Der Betroffenenbeirat des Erzbistums Köln hat diesen Überblick erstellt, damit – wie es in einer begleitenden Mitteilung heißt – sichtbar werde, dass es sich bei den Missbrauchsvergehen nicht um „Einzelfälle“ handelte, „sondern dass die Taten nahezu flächendeckend geschehen sind“.
Tatort-Karte: Datenmaterial stammt aus der Interventionsstelle des Erzbistums
Die Tatort-Karte basiert auf Datenmaterial, das die Interventionsstelle des Erzbistums dem Beirat zur Verfügung gestellt hat. Die Anonymisierung sei „hinreichend gegeben“, betont der Beirat. Auch ist jeder Ort nur einmal genannt, unabhängig von der Häufigkeit der Vorkommnisse. Das ganze Ausmaß der Verbrechen an Kindern und Jugendlichen wird somit von der kartografischen Darstellung nur in Teilen veranschaulicht.
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Die Pressestelle des Erzbistums erläuterte auf Anfrage, es seien aus Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte, den Datenschutz sowie zur Wahrung der Vertraulichkeit immer nur „die Kommunen im Sinne einer politisch-geographischen Verwaltungseinheit“ genannt und keine konkreten Gemeinden. Generalvikar Guido Assmann habe alle leitenden Pfarrer und Mitarbeitenden in der Seelsorge schriftlich über die geplante Karte unterrichtet, sie inhaltlich eingeordnet und Beratungsmöglichkeiten angeboten, um die Pfarreien „bestmöglich zu informieren und zu begleiten“.
Gemeinde Wissen im Westerwald von der Tatort-Karte überrascht
Kreisdechant Martin Kürten (Altenkirchen) bestätigte dies im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“*. Die von Kürten als Pfarrer betreute Gemeinde Wissen wird in der Übersichtskarte des Betroffenenbeirats erstmals öffentlich als Tatort benannt. Da Kürten, wie er sagte, die Info-Mail aus Köln übersehen hatte, traf ihn die Veröffentlichung ebenso unvorbereitet wie die Wissener Bürgerschaft. „Der ganze Ort tuschelt, und fast alle früheren und jetzigen Geistlichen werden verdächtigt“, berichtete ein Bewohner.
Auch Kürten sprach von einem großen „Rätselraten“. Nach seinen Angaben kam Wissen auf die Tatort-Karte, weil ein in den 1980er Jahren vom Bistum Aachen in den Ruhestand versetzter Missbrauchstäter dort bis zu seinem Tod in einem Altenheim lebte. In Wissen sei der Geistliche nicht in Erscheinung getreten. Schon gar nicht habe er dort als Seelsorger gewirkt. Kürten fügte hinzu, er werde die Gemeinde nun „umgehend informieren“.
Instruktiv ist die Übersichtskarte allemal. Mit der Schutzbehauptung, öffentlich bekannt gewordene Missbrauchsfälle seien zwar fraglos verurteilungswürdig und beklagenswert, es handele sich aber nur um vereinzelte Vorkommnisse aufgrund individuellen schuldhaften Versagens der Täter, hatten kirchliche Verantwortliche noch bis vor wenigen Jahren die Dimension und den systemischen Charakter des Missbrauchsskandals wegzureden versucht.
Die Karte
Erläuterung
Die Karte zeigt Kommunen, in denen in der Zeit von 1945 bis 2023 sexueller Missbrauch an Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Mitarbeitende der katholischen Kirche auf dem Gebiet des Erzbistums Köln begangen wurde.
Für die Aufnahme einer Kommune als Tatort musste mindestens eines der folgenden Bedingungen erfüllt sein:
1) Staatliche oder kirchenrechtliche Verurteilung eines Täters
2) Geständnis eines Täters
3) Anerkennungsbescheid der „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung des Leids“ (UKA) für einen von Betroffenen gestellten Antrag auf Entschädigung
Zahlreiche Rechtsgutachten und wissenschaftliche Untersuchungen – darunter die beiden von Kardinal Woelki in Auftrag gegebenen Arbeiten zweier Anwaltskanzleien, von denen eine unter Verschluss ist – sprechen längst eine andere Sprache. Missbrauch als „flächendeckendes“ Phänomen wird seitdem nicht mehr ernsthaft bestritten.
Die Karte des Betroffenenbeirats macht den abstrakten Begriff nun für das Erzbistum Köln im Wortsinn anschaulich – und das lässt einem dann auch nach allen inzwischen vorhandenen Erkenntnissen den Atem stocken: Wie perforiert, wie durchsiebt vom Skandal des Missbrauchs wirkt das Erzbistum. Missbrauch gab es überall. Wer gewollt hätte, hätte das schon sehr viel früher erkennen – und etwas dagegen unternehmen können.
* Die Informationen in diesem und im nächsten Absatz sind aktualisiert und ergänzt.