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Übergriffe auf Mandatsträger„Wenn ihr in zehn Minuten nicht weg seid, seid ihr tot“

Lesezeit 7 Minuten
Wahlkampfstand der SPD Essen-Frohnhausen/Altendorf: Ali Kaan Sevinc, Vorsitzender des Ortsverbandes, kann wieder lachen, nachdem er einige Tage zuvor mit dem Leben bedroht wurde.

Wahlkampfstand der SPD Essen-Frohnhausen/Altendorf: Ali Kaan Sevinc, Vorsitzender des Ortsverbandes, kann wieder lachen, nachdem er einige Tage zuvor mit dem Leben bedroht wurde.

In NRW haben sich Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger mehr als verdoppelt. Auch Rettungsdienste, Bahnmitarbeitende, Polizisten oder Ärzte werden immer öfter Opfer von Gewalt und Respektlosigkeiten.

„Wenn ihr in zehn Minuten nicht weg seid, dann seid ihr tot", habe der Randalierer geschrien und wüste Beschimpfungen ausgestoßen. „Ich war erstmal baff, als das losging“, erzählt Ali Kaan Sevinc, Vorsitzender des SPD-Ortsverbands der Essener Stadtteile Frohnhausen und Altendorf. Ein etwa 40 Jahre alter Mann hatte am vergangenen Samstag laut schimpfend den Wahlkampfstand der Sozialdemokraten zur Bundestagswahl besucht. Von „Asylbetrügern“ habe er gesprochen, von „Volksverrätern“ und dann habe das Bombardement mit wüsten Beschimpfungen begonnen.

Die Adressaten waren Sevinc und ein Parteifreund, mit dem er an diesem Morgen für die SPD und Bundeskanzler Scholz werben wollte. Den schlimmen Worten folgten laut Sevinc noch schlimmere Taten: „Der Typ kam auf uns zu, hat geschubst und gespuckt.“ Als Vorsitzender des Ortsvereins habe er sich schützend zwischen den Parteikollegen und den aggressiven Unbekannten gestellt. Der Mann, der sagte, er sei „Deutscher“ und „glühender AfD-Anhänger“, habe sich daraufhin Kopf-an-Kopf mit ihm postiert. Und geschrien, die ablehnende Haltung der SPD bei der der hitzigen Debatte im Bundestag beim zuletzt von der CDU/CSU eingebrachten „Zustrombegrenzungsgesetz“ sei „asozial“.

Gerempelt, beleidigt und angespuckt

Dann habe der Angreifer ihn „massiv und mit voller Kraft“ gerempelt, erzählt Sevinc: „Hätte ich mich nicht festgehalten, wäre ich wohl durch die Scheibe der Sparkasse geknallt, vor der wir unseren Stand aufgebaut hatten."

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Situationen wie in Essen sind kein Einzelfall mehr. Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger haben sich im vergangenen Jahr in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Das geht aus einer vorläufigen Auswertung des Bundesinnenministeriums hervor, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete. Demnach verzeichnete das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2024 insgesamt 540 solcher Taten in NRW - 2023 waren es noch 260 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. Zu ihnen zählen etwa Bürgermeisterinnen, Landräte, Stadtverordnete oder Abgeordnete.

Straftaten in NRW haben sich verdoppelt

Die Polizei kann entsprechende Taten aus dem vergangenen Jahr noch an das BKA nachmelden. Die Zahl ist also bislang nur vorläufig und dürfte noch ansteigen. Im Ländervergleich wurden die meisten der Straftaten laut BKA in Bayern (747) und Baden-Württemberg (633) registriert, gefolgt von NRW (540) und Berlin (533).

Dass auch in Nordrhein-Westfalen alle Grenzen überschritten werden, zeigt etwa der Fall des Hennefer Bürgermeister Mario Dahm. In einem anonymen Brief wurde dem Sozialdemokraten offen Gewalt angedroht – weil der Stadtrat die Hundesteuer um zwei Euro im Monat erhöht hatte. „Es ist bestimmt kein gutes Gefühl, immer zu denken, dass Dir jemand an irgendeiner Hausecke, in der Tiefgarage oder hinter jedem Strauch, ob zu Hause oder in der Stadt, auflauert und ein ‚persönliches Gespräch‘, das im Krankenhaus endet, sucht. Gerade jetzt in der Karnevalszeit ist es besonders gefährlich“, heißt es in dem perfiden Schreiben.

Amtsinhaber Mario Dahm tritt 2025 erneut zur Bürgermeisterwahl an.

Mario Dahm (SPD), Bürgermeister von Hennef, wurde Gewalt angedroht, weil er die Hundesteuer um zwei Euro erhöhte.

Die Hasswelle schwappt ungebremst durch`s Land

Rolf Fliß, Essens dritter Bürgermeister, wurde abends von einer Gruppe Unbekannter angesprochen. Das zunächst freundliche Gespräch schlug jäh um, als die Männer begannen, den Grünen-Politiker zu beleidigen und handgreiflich zu werden. Einer schlug Fliß unvermittelt ins Gesicht, dann flüchteten die Täter. Auch Kölner Kommunalpolitiker berichteten im vergangenen Jahr von einer zunehmenden Verrohung. Wahlkampfhelfer würden bespuckt und angepöbelt, berichtete der Geschäftsführer der SPD in Köln und Leverkusen, Frank Mederlet: „Das Aggressionspotenzial in der Gesellschaft steigt, das äußert sich auch durch Angriffe auf Politiker und Wahlkampfhelfer.“

Die Grünen bestätigten die „Enthemmung am Wahlkampfstand“. Die Mitglieder würden „zahlreiche verbale Angriffe und zunächst unberechenbare Situationen“ erleben, „die zum Glück alle glimpflich verliefen“, berichtete Parteisprecherin Elisabeth Huther. Maria Westphal, stellvertretende Vorsitzende der FDP in Köln, berichtet von Wahlplakaten, auf denen Einschusslöcher in ihrem Gesicht eingezeichnet waren. „Viele meiner Kollegen bringen ihre Kinder nicht mehr zu Wahlkampfveranstaltungen mit - dazu gehöre auch ich“, so Westphal.

Hat alle Anfeindungen überstanden: Erik Lierenfeld, der Bürgermeister von Dormagen

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Die Hasswelle scheint nahezu ungebremst durchs Land zu schwappen. Und sie betrifft bei weitem nicht nur Politiker. So gab es 2023 insgesamt 3144 Übergriffe auf Mitarbeitende der Deutschen Bahn. Etwa 64 Prozent des Personals gab an, in den vergangenen zwölf Monaten Gewalt oder Anfeindungen erlitten zu haben. 38 Prozent betonten bei der DB-Umfrage, dass Sie mehrfach pro Monat beschimpft wurden.

Auch Polizei und Rettungsdienste immer häufiger betroffen

Und 2023 wurden in Deutschland rund 2.740 Gewalttaten gegen Feuerwehren und andere Rettungsdienste erfasst. Damit landete die Zahl das dritte Jahr in Folge auf einem erneuten Höchststand. Auch die registrierten Gewalttaten gegen Polizistinnen und Polizisten hatten mit 46.218 Fällen einen traurigen Rekordwert erreicht. Insgesamt wurden 105.708 Polizistinnen und Polizisten zu Opfern. Dies sind 9.500 betroffene Beamten und Beamtinnen mehr als im Jahr zuvor, was einem Anstieg um knapp zehn Prozent entspricht.

Selbst in nordrhein-westfälischen Arztpraxen eskaliert die Gewalt – physisch und verbal. Fast jeder zweite Arzt und Medizinische Fachangestellte wurde in den vergangenen fünf Jahren mindestens einmal von einem Patienten körperlich angegriffen oder bedroht. Das sind Ergebnisse einer deutschlandweiten Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). 80 Prozent sind demnach beschimpft und beleidigt worden – häufig mehrfach. Von den Betroffenen haben 14 Prozent aufgrund der Vorkommnisse die Polizei eingeschaltet oder Anzeige erstattet.

Arztpraxen haben wegen Anfeindungen bereits Notrufsystem installiert

Ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt bereits Vorkehrungen getroffen. Zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult. „Die Zündschnur einiger Patienten ist extrem kurz“, berichtet Rolf-Peter Kuchem, Orthopäde in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Hückelhoven. Weil er nicht wenige Minuten auf ein Rezept warten wollte, schlug ein etwa 40 Jahre alter Patient auf den Mediziner ein und brach ihm den Daumen der linken Hand. Der Ton sei dann „harsch, renitent und unflätig, immer häufiger auch beleidigend“

Ein gewalttätiger Patient hat dem Orthopäden und Unfallchirurgen Rolf-Peter Kuchem den Daumen der linken Hand gebrochen.

Ein gewalttätiger Patient hat dem Orthopäden und Unfallchirurgen Rolf-Peter Kuchem den Daumen der linken Hand gebrochen.

Und die Renitenten werden immer dreister, weil sie sich offenbar im Recht wähnen. Die Grenzen des Sagbaren jedenfalls scheinen sich deutlich verschoben zu haben. Der gesellschaftliche Ton ist auch in NRW teilweise so entgleist, dass einige Pöbler keinerlei Angst mehr haben, ihre bedrohlichen Unverschämtheiten sogar unter ihrem richtigen Namen zu verbreiten. Im Rat der Stadt Königswinter beispielsweise wurde deshalb im vergangenen Jahr das Fragerecht von Bürgern modifiziert. Wer dies künftig schriftlich beantrage, dürfe „keine ehrverletzende Schmähkritik gegenüber Personen“ mehr verwenden. Im benachbarten Troisdorf hatte ein Bürger im Zusammenhang mit der örtlichen Fußgängerzone etwa geschrieben, man frage sich, wie die „ignorante“ Dezernentin reagieren würde, „wenn jeden Tag ein Haufen Kot auf ihrer Fußmatte vorzufinden wäre, gegen ihre Haustür kontinuierlich uriniert würde und im Eingangsbereich zu ihrer Wohnung Erbrochenes läge“.

„Das ist wie eine Heuschreckenplage, die über einen herfällt“

Solche Anfeindungen machen was mit einem, hat der Dormagener Bürgermeister Erik Lierenfeld dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor einiger Zeit gesagt. Der Sozialdemokrat war in einen Shitstorm der Querdenker-Szene geraten, weil er sich in einem Instagram-Video zum Maskentragen in Zeiten von Corona geäußert hatte. Die Anfeindungen gingen bis hin zu Morddrohungen.

„Das ist wie eine Heuschreckenplage, die über einen herfällt. Es sind nicht nur zwei, drei Briefe, Mails oder Anrufe, sondern das kommt dann dutzendfach auf allen Kanälen“, sagte der Dormagener Stadtchef, der sämtliche Drohungen zur Anzeige gebracht hat. „Gerade kurz- und mittelfristig ist es natürlich so, dass man anfängt, sein Verhalten zu ändern, ohne dass man das will. Das passiert unterbewusst“, ergänzte der SPD-Politiker: „Es ist weniger Angst als Sorge, auch um die Familie, Freunde oder die Mitarbeiter.“

Die Unbefangenheit weicht einem mulmigen Gefühl

Der Essener SPD-Politiker Selinc, der auch in der Bezirksvertretung seines Stadtteils sitzt, will sich nicht einschüchtern lassen. „Ich werde weitermachen und nicht nachlassen“, so der 27-Jährige. Der Angreifer war schließlich geflohen, als ein Passant den Sozialdemokraten zu Hilfe kam. Bei der Polizei hat Selinc Anzeige wegen Bedrohung erstattet. Ermittelt wird dort jetzt auch wegen Körperverletzung.

„Ich engagiere mich seit zehn Jahren bei Wahlkämpfen“, sagt Selinc. Dabei sei er gelegentlich auch beschimpft und verunglimpft worden. „Körperlich attackiert zu werden, das aber war neu für mich.“ Als Vorsitzender seines Stadtverbandes mache er sich jetzt Gedanken, wie die Genossen bei zukünftigen Aktionen geschützt werde könnten. Denn nach der Bundestagswahl komme schließlich noch die NRW-Kommunalwahl im September dieses Jahres

„Vielleicht sollten wir immer nur mindestens zu viert unterwegs sein“, überlegt Sevinc: „Eventuell würden Schulungen zur Deeskalation auch helfen.“ Aber wie hat er selbst den Angriff denn verkraftet? „Na ja“, sagt er und überlegt kurz. Er müsse „schon zugeben“, dass er ein „mulmiges Gefühl“ habe, wenn er an zukünftige Parteiaktionen denkt: „Die Unbefangenheit ist es, die ins Wanken geraten ist.“