Die jüngsten Vorfälle schockieren die demokratischen Parteien in NRW. In Essen wurden zwei Grüne hinterhältig attackiert.
Angriffe auf PolitikerSie wollten ein Selfie, dann schlugen sie zu – Grünen-Politiker spricht über Attacke in Essen
Nach einer Parteiveranstaltung der Grünen waren der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring und der Kommunalpolitiker Rolf Fliß zu Fuß auf dem Weg nach Hause, als sie von drei Männern angesprochen wurden, die vor einem Restaurant standen. „Die hatten uns als Politiker der Grünen erkannt und zunächst ganz freundlich um ein Gruppenfoto gebeten“, berichtet Gehring dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Völlig unerwartet und anlasslos kippte die Stimmung. Die Männer beschimpften uns als ,Grüne Faschisten', Rolf Ffliß wurde geschlagen. Dann rannten sie weg und flohen in einem Taxi.“
Der Angriff ereignete sich im Essener Stadtteil Rüttenscheid, einer Hochburg der Grünen. „Das heimtückische, hinterhältige Vorgehen der Täter macht mich fassungslos“, sagt Gehring. „Wir lassen uns aber nicht von solchen Attacken einschüchtern. Rolf und ich nehmen weiterhin alle öffentlichen Termine wahr, wir bleiben ansprechbar und bürgernah. Wichtig ist, dass der Rechtsstaat klare Kante zeigt. Es tut gut, dass sich in den letzten Tagen überwältigend viele Menschen bei uns gemeldet haben, eine Solidaritätswelle für Anstand, Respekt und eine faire politische Kultur.“
Der Angriff auf die Grünen-Politiker in Essen ist kein Einzelfall. „Wir erleben seit Jahren eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft, die zum Beispiel auch Rettungskräfte oder Ehrenamtliche fast täglich zu spüren bekommen“, sagt Gehring. „Es ist etwas gekippt, und es reicht jetzt. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen. Jeder Angriff und jede Beleidigung, Hass und Hetze muss konsequent verfolgt werden. Auch für den Schutz von gefährdeten Personen kann man mehr tun, wir brauchen eine erhöhte Sensibilität aller Sicherheitsbehörden.“
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Jochen Ott: „Wenn diese perfide Strategie Erfolg hat, sitzen in den Räten irgendwann nur noch Feinde der Demokratie“
Die Attacke in Essen hat auch in der Landespolitik eine Diskussion über die Sicherheit von Politikern und Ehrenamtlern ausgelöst. „Die Angriffe auf unsere Demokratie richten sich sehr konkret gegen Menschen“, sagt Verena Schäffer, Fraktionschefin der Grünen im Düsseldorfer Landtag. Aus Hass und Hetze seien „längst Taten“ geworden. „Unser Rechtsstaat muss konsequent gegen die Feinde der Demokratie vorgehen“, verlangte Schäffer.
Am vergangenen Freitag war der Spitzenkandidat für die Europawahl der SPD-Sachsen, Matthias Ecke, beim Aufhängen von Wahlkampfplakaten von vier Unbekannten schwer verletzt worden. Jochen Ott, Fraktionsvorsitzender der SPD im Düsseldorfer Landtag, erklärte, die Täter wollten engagierte Menschen einschüchtern und sie davon abbringen, sich vor Ort für ihre Gemeinde einzusetzen.
„Wenn diese perfide Strategie Erfolg hat, sitzen in den Räten irgendwann nur noch die Feinde der Demokratie – und hätten ihr Ziel erreicht“, sagte Ott. „Wir brauchen umfassende Lösungen, zu denen zum Beispiel auch eine Stärkung des Staatsschutzes in NRW gehört“, so der Politiker aus Köln. Gleichzeitig müsse auch im Bildungssystem neu gedacht werden. „Die Lehrpläne sind derart überfrachtet, dass für wichtige Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gar kein Raum mehr ist. Aber wo soll Demokratiebildung denn erfolgen, wenn nicht in der Schule?“, fragte Ott.
In der Region zeigt sich Aggression
Die FDP rief die schwarz-grüne Landesregierung auf, Politiker bestmöglich zu schützen und zu unterstützen. „Es ist erschreckend und völlig inakzeptabel, dass gewählte Vertreterinnen und Vertreter zunehmend Zielscheibe von Bedrohungen und Gewalt werden“, sagte FDP-Innenexperte Marc Lürbke. Diese Entwicklung bedrohe nicht nur das individuelle Wohlergehen und Sicherheitsgefühl von Politikerinnen und Politikern, sondern untergrabe auch die Grundlagen der Demokratie. Es sei „an der Zeit“, dass die Gesellschaft entschlossen gegen diese Gewalttaten vorgehe und die demokratischen Werte verteidige: „Wir dürfen nicht stillschweigend akzeptieren, wenn Menschen zur Zielscheibe von Hass und Gewalt werden.“
Der Bedburger Bürgermeister Sascha Solbach (SPD) kennt Bedrohung schon seit längerem aus eigener Erfahrung. Zu den Übergriffen auf Parteikollege Ecke sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Wir sind offensichtlich in einem Zeitalter angekommen, in dem Propaganda wieder verfängt.“ Der 44-Jährige hatte im vorigen September selbst anonyme Drohbriefe erhalten, nachdem die Stadt Bedburg angekündigt hatte, eine Bürgerhalle mit kurzfristig zugewiesenen Geflüchteten belegen zu müssen. In einem Schreiben, das in Solbachs privatem Briefkasten gelandet war, hieß es, er werde zur Rechenschaft gezogen. Auch Familienmitglieder des Bürgermeisters waren namentlich genannt worden.
Dankbar für Solidarität
„Der Respekt vor dem politischen Mandat ist in Teilen der Bevölkerung nicht mehr vorhanden“, sagte Solbach. Die Angriffe vor allem im Osten richteten sich meist gegen SPD-Mitglieder oder Grüne, und er sei entsetzt, dass offenbar junge Leute für den jüngsten Übergriff verantwortlich seien. „Die von Russland finanzierte Propaganda in den sozialen Netzwerken schürt den blinden Hass.“
Raue Tendenzen zeigen sich auch an anderen Orten in der Region. „Viele Kommentare gehen unter die Gürtellinie“, berichtet Marie Brück, Sprecherin von den Grünen in Oberberg. Beleidigungen etwa an Infoständen während des Wahlkampfs seien für die oberbergischen Fraktionen keine Seltenheit, körperliche Gewalt bislang aber kein Thema. „Ein leichtes Schieben oder Anspucken haben wir aber leider schon erlebt und nehmen das sehr ernst“, berichtet Jan Köstering, Kreissprecher von Die Linke Oberberg. Er erinnert sich zudem an einen Vorfall im Jahr 2020, als eine Vorgängerin in dem Amt Morddrohungen – vermutlich von einem rechtsextremistischen Absender – erhalten hatte.
Kai Gehring und Rolf Fliß sind dankbar für die Solidarität und Menschlichkeit, die ihnen nach dem Angriff entgegengebracht wurde. „Das tat und tut gut. Wir sind jetzt noch kampfbereiter, unsere Demokratie gegen Antidemokraten zu verteidigen.“