Luftwaffen-Offiziere beraten über deutsche Marschflugkörper für die Ukraine. In Russland wird ein Mitschnitt veröffentlicht – ein hochbrisanter Vorgang.
„Der Russe hört mit“Was zum Sicherheitsleck bei der Luftwaffe bisher bekannt ist
Das war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt: Intern und recht offen haben hohe deutsche Luftwaffen-Offiziere in einer Schalte über theoretische Möglichkeiten des Einsatzes deutscher Taurus-Marschflugkörper durch die Ukraine diskutiert. Nun wird in Russland ein Mitschnitt des Gesprächs veröffentlicht.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht von einer „sehr ernsten Angelegenheit“. Auf eine Frage der Deutschen Presse-Agentur dpa nach möglichen außenpolitischen Schäden sagte er am Samstag: „Deshalb wird das jetzt sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig aufgeklärt. Das ist auch notwendig.“
Ist der Mitschnitt authentisch?
Das deutsche Verteidigungsministerium geht davon aus, dass das Gespräch abgehört wurde. „Es ist nach unserer Einschätzung ein Gespräch im Bereich der Luftwaffe abgehört worden. Ob in der aufgezeichneten oder verschriftlichten Variante, die in den sozialen Medien kursieren, Veränderungen vorgenommen wurden, können wir derzeit nicht gesichert sagen“, teilte eine Sprecherin mit.
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Worum geht es in dem Gespräch inhaltlich?
Zu Beginn ist auf dem Audio eine lockere Plauderei zu hören. Einer der Beteiligten erklärt, gerade in Singapur zu sein. Er schwärmt von der Sicht vom Hotelzimmer aus. „Ich schicke dir vielleicht später mal ein Foto. Das ist schon mega.“ Aber es wird schnell ernster: Es handelt sich um ein Vorbereitungsgespräch der Offiziere für ein Briefing für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), wohl im Februar. In der Vierer-Runde mit dabei ist der Chef der Luftwaffe, Inspekteur Ingo Gerhartz. Thema ist, wie die Ukraine deutsche Taurus-Marschflugkörper im Krieg gegen Russland einsetzen könnte – falls Kanzler Scholz sein Nein zu einer Lieferung der Waffen überdenken sollte.
Welche Fragen werden in dem Gespräch konkret diskutiert?
Eine Frage ist, ob Taurus-Marschflugkörper technisch theoretisch in der Lage wären, die von Russland gebaute Brücke zur völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim zu zerstören. Ein weiterer Punkt ist, ob die Ukraine den Beschuss ohne Bundeswehrbeteiligung etwa bei der Zielprogrammierung bewerkstelligen könnte. Es wird diskutiert, wie lange die Ausbildung von Ukrainern an Taurus dauern könnte, wie Deutschland dabei vorgehen könnte und wie die Ausbildung verkürzbar wäre. In dem Mitschnitt ist allerdings auch zu hören, dass es auf politischer Ebene kein grünes Licht für die Lieferung der Marschflugkörper gibt.
Worum geht es grundsätzlich in der Debatte über Taurus?
Die ukrainische Regierung hat im Mai 2023 um die Lieferung der Marschflugkörper gebeten, um die russischen Nachschublinien auf besetztem Gebiet hinter der Front treffen zu können. Scholz entschied im Oktober, die Taurus-Raketen vorerst nicht in die Ukraine zu schicken. In den vergangenen Tagen bekräftigte er sein Nein und erklärte ausführlich seine Gründe.
Im Kern geht es um das Risiko, dass Deutschland in den Krieg verwickelt werden könnte. „Deutsche Soldaten dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein“, sagte Scholz. Teile der eigenen Ampel-Koalition, aber auch Unionspolitiker sind für eine Lieferung von Taurus und kritisieren Scholz für sein Nein.
Warum ist die Veröffentlichung des Gesprächs brisant?
Es geht zum Teil um militärisch sensible Informationen. Einer der Beteiligten – wohl Luftwaffen-Inspekteur Gerhartz – erklärt, er könne sich vorstellen, dass in einer ersten Tranche 50 und dann noch einmal 50 Flugkörper geliefert würden – was aber den Krieg nicht ändern würde. Allerdings: Es handelt sich letztlich nur um Gedankenspiele, um der Politik Möglichkeiten aufzuzeigen.
Zudem ist die Rede davon, dass die Briten im Zusammenhang mit dem Einsatz ihrer an die Ukraine gelieferten Storm-Shadow-Marschflugkörper „ein paar Leute vor Ort“ hätten. Worte von Kanzler Scholz vor ein paar Tagen waren ähnlich interpretiert worden. „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden“, sagte Scholz. Die Briten erklärten daraufhin, der Einsatz von Storm Shadow durch die Ukraine und der Prozess der Zielauswahl seien Sache der Ukrainer.
Brisant ist die Veröffentlichung des Gesprächs aber auch deshalb, weil sie eine offensichtliche Sicherheitslücke entlarvt. Wie kam Russland an die Aufnahme? Gab es eine gezielte Abhöraktion? Spielt dabei eine Rolle, dass sich einer der Teilnehmer in Singapur in einem Hotel aufhielt? Nach dpa-Informationen nutzen die Teilnehmer für ihre Besprechung die Plattform Webex. Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter rechnet nach dem Leak mit weiteren Veröffentlichungen durch Russland. „Es werden sicher noch etliche andere Gespräche abgehört worden sein und gegebenenfalls zu späteren Zeitpunkten im Sinne Russlands geleakt werden“, sagte er dem Nachrichtenportal, „ZDF heute“.
Was bezweckt Russland mit der Veröffentlichung des Gesprächs?
Russland will damit vor allem zeigen, dass Deutschland – anders als von der Bundesregierung beteuert – längst Kriegspartei sei und tief in dem Konflikt stecke. Das Gespräch belege die „Planungen von Kampfhandlungen gegen Russland, einschließlich der Zerstörung der zivilen Infrastruktur“, schimpfte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. „Wir fordern von Deutschland Erklärungen.“
Öffentlich gemacht hatte den Mitschnitt Sacharowas einflussreiche Freundin Margarita Simonjan. Die Chefredakteurin des russischen Propagandakanals RT kündigte zunächst am Freitagmorgen den Mitschnitt als Sensation an, veröffentlichte dann Stunden später eine russische Textversion und dann noch einmal Stunden später die Audiodatei mit dem deutschen O-Ton im Netz für alle hörbar. Simonjan gilt als Vertraute von Kremlchef Wladimir Putin, der selbst als Geheimdienstoffizier in der DDR arbeitete und auch zeitweilig den russischen Inlandsgeheimdienst FSB leitete.
Warum will die Ukraine die Krim-Brücke zerstören?
Die Bilder von einer Explosion samt Feuer im Herbst 2022 auf der Krim-Brücke und neuen schweren Zerstörungen im Sommer 2023 nach einem Angriff gingen um die Welt. Die Ukraine bekannte sich zu den Attacken und erklärte immer wieder, die 19 Kilometer lange Brücke mit einem Abschnitt für Züge und einem für Autos zu zerstören, sobald es die Möglichkeit dazu gebe. Die Marschflugkörper vom Typ Taurus, die Kiew fordert, gelten hier als entsprechend schlagkräftig – wenngleich dem veröffentlichten Gesprächsinhalt zufolge ein Treffer allein wohl nicht ausreichen würde.
Kiew begründete die Pläne damit, dass das Bauwerk wichtig ist für die Versorgung russischer Truppen bei der Invasion im Süden der Ukraine. Dieser Versorgungsweg soll zerstört werden. Allerdings versorgt Russland seine Truppen verstärkt auch über die besetzten Gebiete in der Ostukraine. Die Ukraine hatte schon vor dem Krieg die in Teilen 2018 und 2019 eröffnete Brücke als illegal und Verstoß gegen das Völkerrecht kritisiert.
Welche Bedeutung hat die Brücke für Russland – und welche Folge hätte ihre Zerstörung?
Für Kremlchef Wladimir Putin ist die Brücke zwischen Russland und der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim ein Herzensobjekt. Das Milliardenobjekt steht für eine feste wirtschaftliche Anbindung der Krim an Russland. Per Zug und Auto kommen Millionen Touristen auf die Ferieninsel. Der Güterverkehr ist auch wichtig für die Versorgung der Menschen dort. Auch deshalb spricht Russland von ziviler Infrastruktur, deren Zerstörung aus Moskauer Sicht einem Kriegsverbrechen gleichkäme.
Genutzt wird die Brücke aber auch vom Moskauer Verteidigungsministerium, weshalb sie aus Kiewer Sicht ein militärisches Objekt ist, das zerstört werden könne. Russland hat bisher nach jedem Angriff auf die Krim-Brücke schwere Vergeltungsschläge gegen die Ukraine ausgeführt. Die Atommacht drohte stets, die Krim mit allen ihren zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.
Welche Konsequenzen sind aus der Veröffentlichung des Mitschnitts zu ziehen?
Parteiübergreifend ist die Sorge groß, dass sicherheitsrelevante Kommunikationskanäle nicht genug geschützt sind. Ausschüsse im Bundestag sollen sich in der ab dem 11. März mit dem Thema beschäftigen. Dabei steht auch die Frage im Raum, ob es ein generelles Problem gibt. Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte bessere Vorkehrungen gegen Spionage. Sie sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), Spionage gehöre „zum Instrumentenkasten Russlands hybrider Kriegsführung“.
Der deutsche Kontingentführer bei der Nato-Luftraumüberwachung im Baltikum, Swen Jacob, sagte der dpa: „Wir müssen gerade hier vor Ort im Baltikum, wo die Russen so nah sind, davon ausgehen, dass wir abgehört werden. Wir wissen auch, dass wir abgehört werden.“ Vor Ort seien die Soldaten darauf eingestellt - man habe auch erhöhte technische Maßnahmen getroffen, um Abhörungen zu verhindern. „Wir haben nach unserem Ermessen schon das Maximum gemacht, was wir tun können. Aber es zeigt eben auch: Der Russe hört mit.“ (dpa)