In Europa scheint nichts mehr so zu sein, wie es noch vor etwa einer Woche war: In der Ukraine kämpfen Truppen um Land und Demokratie und in den Hauptstädten dieser Welt zerbrechen sich Staatsoberhäupter den Kopf darüber, was die richtige Reaktion auf Putins Schachzug sein könnte. Gleichzeitig schwappt eine Welle der Solidarität und des Mitgefühls über den Kontinent. Letzteres für sich genommen ist eine tolle Nachricht: Europa hat Herz, Europa hilft in der Not.Leider gilt das immer noch nicht für alle, die auf der Flucht vor Krieg, Terror, Armut oder Hoffnungslosigkeit sind.
Als die Lage im Sommer 2021 in Afghanistan eskalierte, brauchte Armin Laschet, damaliger CDU-Kanzlerkandidat und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, jedenfalls nicht lange, um zu verkünden: „2015 darf sich nicht wiederholen!“ Wir erinnern uns: 2015 war das Jahr von Merkels „Wir schaffen das”. Das Jahr, in dem Deutschland Geflüchtete mit offenen Armen empfing.
Nun herrscht Krieg vom Donbass bis zum Dnepr und erneut sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht, auch nach Deutschland. Diesmal findet all das um die Ecke statt. Diesmal warnt niemand lauthals vor einer Wiederholung von „2015“.
Manche europäische Staaten entdecken plötzlich ein nie dagewesenes Mitgefühl im Umgang mit Flüchtenden. Wenn polnische Behörden verkünden, sie würden „jeden reinlassen“, und der ungarische Präsident Viktor Orban die Grenzen seines Landes großmütig für Menschen auf der Flucht öffnet, ist das nicht nur vorbildliche Nachbarschaftshilfe, sondern für die beiden Länder auch eine radikale politische Kehrtwende. Zumindest augenscheinlich. Denn die Wahrheit ist auch, dass hier ein Unterschied gemacht wird: zwischen Menschen auf der Flucht, die weiß und christlich sind – und allen anderen.
Schwarze Menschen und People of Color, viele davon Studierende, die aus der Ukraine geflohen sind, berichteten in den letzten Tagen vermehrt von Rassismus, der ihnen während ihrer Flucht widerfahren sei.
Sie hätten Züge wieder verlassen müssen, weil diese „nur für Ukrainer“ seien. Sie seien in der Kälte an Grenzübergängen mit Gewalt zurückgehalten worden, während weiße Flüchtende durchgewunken wurden. Videos und Medienberichte belegen diese Ereignisse.
Und was passiert in Deutschland, während sich die europäische Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtende handfest an den Grenzen der Ukraine und seiner Nachbarländer manifestiert?
Vorsorgliche Debatten in deutschen Talkshows
Bisher hat es nur eine geringe Anzahl von Ukrainerinnen und Ukrainern in die Bundesrepublik geschafft. Warum man diese Menschen gerne aufnehmen wird, die aus Syrien aber nicht so gerne, wird in deutschen Talkshows und Artikeln allerdings schon vorsorglich verraten.
„Ja, es sind Christen“, erklärte uns da Gabor Steingart bei der ARD-Talkshow „hart aber fair“ am Montagabend. Die Ukrainer würden zu „unserem Kulturkreis“ gehören, deshalb könnte er sich vorstellen, dass es „diesmal funktioniert“. Was zuvor nicht funktioniert haben soll, blieb unklar. Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse legte nach: Bei den Geflüchteten von 2015 habe es sich schließlich großteils um „wehrfähige, starke Männer, die eigentlich ihr Land verteidigen sollten“ gehandelt. Nun sei das Gegenteil der Fall, ukrainische Männer würden gegen russische Truppen kämpfen, „Frauen, Mütter und Kinder“ derweil gehen, erklärte Domröse. Widerspruch gab es nicht.
Während Schwarze Menschen und People of Color an ukrainischen Grenzübergängen separiert werden, meldete die griechische Insel Lesbos am Dienstag sechs an Land gespülte Leichen.
Bewundernswerte Hilfe, die nicht selbstverständlich ist
Sechs Menschen, die sich vermutlich auf der Flucht vor Krieg und seinen Folgen, sichtbar in Syrien, Libyen ober eben jetzt in der Ukraine, befanden. Selbst wenn sie „nur“ vor Armut und Hoffnungslosigkeit geflohen wären, blieben es sechs Menschen, die einsam und unbeachtet im europäischen Mittelmeer ertrunken sind, weil Europa und nach beeindruckender anfänglicher Offenheit auch Deutschland irgendwann beschlossen haben, dass man diesen Flüchtenden nicht so warmherzig helfen muss wie denen aus der Ukraine.
Die große Hilfe für flüchtende Ukrainerinnen und Ukrainer und die breite Unterstützung des Landes sind zweifelsfrei richtig, die eiserne Haltung der Ukrainer und die große internationale Anteilnahme bewundernswert. Für eine vermeintliche Selbstverständlichkeit dieses Umgangs mit Schutzsuchenden braucht sich der Kontinent aber nun wirklich nicht zu preisen. Manches ist in Europa eben doch noch genauso, wie es vor einer Woche war.