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„Tödliche Falle“ in PokrowskGeländegewinne mit „riesigen Verlusten“ – Putins Armee rückt auf wichtige Stadt vor

Lesezeit 5 Minuten
Kremlchef Wladimir Putin mit Generalstabschef Waleri Gerassimow. Putins Armee nähert sich der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der Ostukraine mit großen Schritten. (Archivbild)

Kremlchef Wladimir Putin mit Generalstabschef Waleri Gerassimow. Putins Armee nähert sich der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der Ostukraine mit großen Schritten. (Archivbild)

Die russische Armee nähert sich Pokrowsk. Ukrainer berichten vom Einsatz chemischer Waffen.

Es ist eine Meldung, die es in den letzten Wochen immer wieder gegeben hat: Russland hat nach eigenen Angaben erneut eine Ortschaft nahe der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk im Osten der Ukraine eingenommen. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Mittwoch (4. September), das rund 30 Kilometer von Pokrowsk gelegene Dorf Karliwka sei „vollständig befreit“ worden.

Was man sich in Moskau unter einer Befreiung versteht, wird derweil in diesen Tagen ebenfalls sichtbar. Zuletzt kursierten Aufnahmen aus Pokrowsk und der Umgebung in den sozialen Netzwerken. Außer Schutt und Asche scheint von den „befreiten“ Ortschaften oftmals nicht mehr viel übrig zu sein.

Pokrowsk: Russland gelingen größte Geländegewinne seit Oktober 2022

Die Geländegewinne der russischen Truppen haben einen hohen Preis, sind jedoch wohl die größten seit Oktober 2022, das geht aus den jüngsten Daten des „Institute for the Study of War“, einer US-Denkfabrik, hervor. Demnach brachte die russische Armee im August in der Ukraine 477 Quadratkilometer unter ihre Kontrolle, vor allem im hart um kämpften Donbass, wo die Ukrainer zuletzt immer mehr in Bedrängnis geraten.

Gleichzeitig eroberten Kiews Truppen in Kursk selbst mehr als 1.100 Quadratkilometer russischen Territoriums. Moskau hat jedoch nicht, wie vielleicht von Kiew erhofft, im großen Stil seine Streitkräfte von der Front im Osten des Landes abgezogen, erst recht nicht aus der umkämpften Region rund um Pokrowsk.

Pokrowsk: Bewohner verlassen bedrohte ukrainische Stadt

Derzeit laufen in der ukrainischen Stadt Evakuierungen, die russischen Truppen befinden sich jüngsten Berichten zufolge nur noch wenige Kilometer von Pokrowsk entfernt. Täglich verlassen mit Zivilisten vollgepackte Züge die Stadt in Richtung Westukraine.

Pokrowsk gilt als wichtiger Logistikstützpunkt der ukrainischen Armee. Seit Monaten weichen Kiews Truppen vor dem russischen Vormarsch in der Region zurück. Und Moskau scheint dabei wie bereits bei den erbarmungslos geführten Schlachten um Bachmut oder Awdijiwka offenbar erneut nicht vor extremen Mitteln zurückzuschrecken.

Ukraine: Russland setzt „Giftgas“ bei Offensive im Donbass ein

So berichtete die ukrainische Zeitung „Kyiv Independent“ Ende August über den vermehrten Einsatz chemischer Kampfstoffe durch russische Truppen in der Region. Ukrainische Soldaten schilderten dort, wie die russische Armee Drohnen einsetzt, um „Giftgaskartuschen“ über ukrainischen Stellungen abzuwerfen. Auch offizielle ukrainische Angaben deuten auf einen vermehrten Einsatz chemischer Kampfstoffe hin.

So seien im Januar noch 229 derartige Fälle verzeichnet worden, im Juni jedoch bereits 639, erklärten die für die Untersuchung chemischer Kampfstoffe zuständigen Unterstützungstruppen des ukrainischen Militärs. Demnach haben sich bisher etwa 2.000 Soldaten nach „Giftgas“-Angriffen in ärztliche Behandlung begeben.

Putins Truppen verwenden mutmaßlich auch Chlorpikrin-Gas

Seit Juli sollen mindestens zwei Soldaten nachweislich direkt an den Folgen von Gasvergiftungen gestorben sein, berichtete der „Kyiv Independent“ weiter. Russland setze bei diesen Angriffen sowohl starkes Tränengas, als auch Ammoniak oder Chlorpikrin-Gas ein, letzteres gilt als gefährlichster der Kampfstoffe.

Unabhängig überprüfen lassen sich die Anschuldigungen nicht. Derartige Vorwürfe wurden seit Kriegsbeginn jedoch immer wieder erhoben, auch Aussagen russischer Soldaten hatten bereits auf den Einsatz von Chlorpikrin-Gas hingedeutet.

Ein völlig zerstörtes Gebäude in der Region Pokrowsk.

Ein völlig zerstörtes Gebäude in der Region Pokrowsk. Russland hinterlässt oftmals nur noch Schutt und Asche bei seiner Offensive im Donbass. (Archivbild)

Die ukrainischen Truppen in der Region sind durch den russischen Vorstoß immer mehr in Bedrängnis geraten – mitunter mit dramatischen Konsequenzen. So gab es zuletzt Berichte über eine drohende Einkesselung einer großen Zahl ukrainischer Einheiten südlich von Pokrowsk. Ein „tödliche Falle“ drohe, berichtete das Magazin „Forbes“, da Putins Truppen die Ukrainer mit nur wenigen erfolgreichen Manövern von jeglicher Rückzugsmöglichkeit abschneiden könnten.

Pokrowsk: „Tödliche Falle“ und enorme russische Verluste

Allerdings mehren sich zuletzt auch die Berichte über enorme russische Verluste in der Region, die weit über jenen der verlustreichsten Tage des bisherigen Kriegsverlaufs liegen sollen. Es gebe eindeutige „Anzeichen“ dafür, dass Russland am vergangenen Wochenende die „kostspieligsten 24 Stunden ihres 30 Monate andauernden Krieges gegen die Ukraine erlebt haben“, berichtete „Forbes“ über jüngste Analysen von Fachleuten.

Demnach wurden allein am vergangenen Sonntag mehr als 180 beschädigte, zerstörte oder aufgegebene russische Fahrzeuge und schwere Waffen in der Region gezählt. Auch in den Telegram-Kanälen ukrainischer Einheiten ist derzeit von „riesigen Verlusten“ auf russischer Seite die Rede. Unabhängig überprüfbar sind auch diese Angaben nicht.

Ukraine erobert Stellungen zurück: Gibt es Hoffnung für Pokrowsk?

Es sei nicht mehr die Frage, ob Pokrowsk fällt, sondern nur noch wann, hieß es zuletzt angesichts der russischen Geländegewinne oftmals. Dennoch scheint die Schlacht für die ukrainische Armee noch nicht verloren zu sein.

Zuletzt gab es Berichte, dass Einheiten zur Verstärkung in die Region verlegt worden seien. Die US-Analysten vom ISW berichteten zudem am Montag, die ukrainische Armee habe einige Stellungen in der Region zurückerobern können. Und so gibt es auch vorsichtigen Optimismus auf ukrainischer Seite, auch angesichts der enormen russischen Verluste.

„Es ist davon auszugehen, dass der Feind die Stadt nicht einnehmen kann“

Sollten der derzeitigen russischen Offensive Truppen und Fahrzeuge ausgehen, bevor sie Pokrowsk erreicht, könnte es eine Weile dauern, bis Russland die Ressourcen für einen zweiten Versuch aufbringen kann – so die Hoffnung der Ukrainer. „Es ist davon auszugehen, dass der Feind die Stadt bis Mitte September erreicht, sie aber nicht einnehmen kann“, prognostizierte das ukrainische Zentrum für Verteidigungsstrategien.

Tausende Menschen haben die Stadt in den letzten Wochen verlassen

Evakuierungen in Pokrowsk: Tausende Menschen haben die Stadt in den letzten Wochen verlassen.(Archivbild)

Ob diese Vorhersage eintreffen wird, bleibt zunächst völlig offen. Bereits bei den Schlachten um Bachmut und Awdijiwka hat Moskau die Bereitschaft bewiesen, unzählige Menschenleben und große Mengen Kriegsgerät für die Eroberung von Ortschaften zu opfern, die nach den russischen Angriffen oftmals nur noch aus Trümmern bestehen.

Bewohner verlassen Pokrowsk: „Ich fahre morgen oder übermorgen weg“

„Die Kämpfe sind außergewöhnlich hart. Der Feind wirft alles in die Schlacht, was sich bewegen und vorrücken kann, und versucht, unsere Verteidigung zu durchbrechen“, erklärte der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj zuletzt. Noch aber gibt es Leben in Pokrowsk. 30.000 der eigentlich doppelt so vielen Bewohner befinden sich nach jüngsten Angaben noch in der Stadt.

Die Entscheidung, ob man gehen oder bleiben sollte, fällt vielen Bewohnern nicht leicht, wie manche zuletzt gegenüber „France 24“ erklärten. „Ich fahre morgen oder übermorgen weg“, sagte Igor, ein ehemaliger Bergmann, den Reportern. „Das ist hart. Es ist eine schwere Entscheidung, die ich treffen muss. Aber mein Kind ist 17, wir müssen hier weg.“