Reale Gefahr steckte bisher nie hinter Moskaus Drohungen, dafür aber immer politisches Kalkül. Estland reagiert unbeeindruckt auf den Kreml.
Putin-Vertrauter warnt „Erben von Hitler“Russland droht mit einem Atomschlag – schon wieder
Nach den jüngsten schweren Raketenschlägen gegen die Ukraine hat Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew erneut mit Atomwaffendrohungen für Aufsehen gesorgt. „Wie bekannt wurden dabei verschiedene Träger mit unterschiedlichen Ladungen benutzt, mit Ausnahme von atomaren. Noch!“, erklärte der Vizechef des russischen Sicherheitsrats zu den russischen Angriffen in den letzten Wochen.
Medwedew bezeichnete die Attacken auf einer Sitzung der russischen Militär- und Rüstungskommission zudem unzutreffend als „Schläge gegen Militärobjekte“. Allein in Kyiv waren mehr als 30 Zivilisten bei den jüngsten Raketenschlägen getötet worden. Seit Kriegsbeginn richten sich russische Angriffe regelmäßig gegen zivile Ziele in der Ukraine.
Putin-Vertrauter: Medwedew warnt „Erben von Hitler und Mussolini“
Auf Telegram legte Medwedew, enger Vertrauter von Kremlchef Wladimir Putin, schließlich noch einmal nach – und blieb sich dabei stilistisch treu. Der Sicherheitsratsvize sorgt seit Kriegsbeginn regelmäßig mit wütenden, oftmals auch beleidigenden Äußerungen und Drohungen nicht nur politisch für Aufsehen, sondern dank der skurrilen Ausdrucksweise mittlerweile auch für reichlich Häme.
So warnte Medwedew nun die „dümmlichen Krieger“ aus der Ukraine vor Versuchen, mit westlichen Raketen größerer Reichweite Raketenstartrampen auf russischem Gebiet zu beschießen. Dies sei „keine Selbstverteidigung, sondern eine direkte und offensichtliche Begründung für den Einsatz von Atomwaffen gegen ein solches Land“, fügte Medwedew an. Konkrete Hinweise auf einen derartigen Angriff gab es bisher bei keiner seiner Drohungen, auch diesmal nicht.
Der Moskauer Scharfmacher wandte sich auch an die europäischen Unterstützer der Ukraine, die er als „Erben von Hitler, Mussolini, Pétain und anderen“ bezeichnete. Zudem sprach Medwedew erneut von „Nazis“ in der Ukraine und bediente damit eines der zentralen russischen Propaganda-Narrative.
Keine Hinweise auf Atomschlag – aber politische Motive für die Drohung
Die Atomdrohung dürfte unterdessen erneut politisches Kalkül sein. Russland nutze seine Atomwaffen zur „politischen Drohung“, mit der Hoffnung, dass im Westen „eine Form von Selbstabschreckung“ stattfinde, hatte der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu vorherigen Drohungen Medwedews erklärt. Diese angedrohte Gefahr „besteht aus meiner Sicht aber nicht“, fügte Jäger an.
Auch jetzt gibt es einen naheliegenden Anlass für Medwedews Drohung. Zuletzt hatte es vermehrt Angriffe auf militärische Ziele in der Grenzregion Belgorod – und damit auf russischem Staatsgebiet – gegeben. Derartige Schläge gelten bei der Verteidigung gegen eine Invasion als legal und legitim. Dennoch ist der Westen bisher davor zurückgeschreckt, der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland zu erlauben. Mit der Sorge vor derartigen Angriffen und einer daraus folgenden Eskalation hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine vorerst abgelehnt.
Ukraine will Raketenabschussanlagen in Russland angreifen
Zuletzt hatte der ukrainische Luftwaffensprecher Jurij Ihnat jedoch öffentlich erklärt, die Ukraine habe nicht die Ressourcen, um die Tausenden Raketen in Russlands Waffenarsenal abzufangen. Es sei daher effektiver, die Abschussanlagen der Raketen mit Präzisionswaffen auszuschalten. Medwedews Drohung scheint Moskaus Antwort auf die ukrainischen Pläne zu sein.
Aber auch eine abschreckende Wirkung auf das Kanzleramt in Berlin wird man sich in Moskau davon erhoffen. Zuletzt waren die Forderungen nach einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern lauter geworden, der Druck auf Scholz gewachsen.
Katja Kallas: „Hoffnungen auf einen schnellen Frieden sind eine Falle“
Zuspruch bekam die Ukraine am Donnerstag unterdessen aus Estland. Bei einem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Tallinn kritisierte der estnische Präsident Alar Karis die Beschränkungen für ukrainische Militärschläge mit westlichen Waffen. Die Zerstörung von Zielen auf russischem Territorium sei notwendig, „um den Vormarsch russischer Truppen zu verlangsamen“, erklärte Karis.
Die estnische Premierministerin Kaja Kallas warnte zudem vor einer Ausweitung der russischen Aggression. „Hoffnungen auf einen schnellen Frieden sind eine Falle“, schrieb Kallas im sozialen Netzwerk X. „Russland würde ihn nur nutzen, um Kräfte für einen noch heftigeren Angriff zu sammeln“, fügte sie an. „Wir alle wollen in Frieden leben, aber es muss ein gerechter und andauernder Frieden sein.“ Kallas sicherte der Ukraine zudem finanzielle Unterstützung in den nächsten vier Jahren zu.
Russland hält rund ein Fünftel der Ukraine besetzt
Kremlchef Wladimir Putin hat vor mehr als 22 Monaten die Invasion des Nachbarlands befohlen. Trotz mehrerer Rückschläge hält Russland einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim nach wie vor rund ein Fünftel der Ukraine besetzt und sieht sich derzeit auf dem Siegerpfad. Auch nach Ansicht von Experten hat Russland auf dem Schlachtfeld zuletzt die Initiative zurückgewonnen.
Das liegt demnach auch daran, dass die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine stocken. Schätzungen zufolge verschießt Russland derzeit allein an Artilleriemunition etwa fünfmal so viel wie die Ukraine. Auch bei der Anzahl an Raketen und Drohnen besitzt Moskau ein deutliches Übergewicht.
Wladimir Putin rückt nicht von seinem Kriegskurs ab
Die russischen Streitkräfte bezahlen die jüngsten Erfolge jedoch auch mit enormen Verlusten. Allein in der Schlacht um die ukrainische Stadt Awdijiwka sind nach Einschätzungen westlicher Geheimdienste Zehntausende russische Soldaten getötet worden. Seit Kriegsbeginn soll die russische Armee demnach mehr als 300.000 Soldaten verloren haben. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Zuletzt hat Moskau seine Kriegsziele ungeachtet aller Verluste bekräftigt. Frieden werde es nur zu Russlands Bedingungen geben, hieß es aus dem Kreml. Wie die aussehen könnten, deutete Kremlchef Putin schließlich an – und bezeichnete Odessa als „russische Stadt“. (mit dpa)