Kiew/Moskau/Berlin – Am 24. Februar überquerte die russische Armee die ukrainische Grenze und begann den Überfall auf das Nachbarland. Was ist seitdem passiert? Eine Bilanz.
Wie viele Zivilisten wurden getötet?
Laut dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte wurden seit dem Einmarsch der russischen Armee mindestens 1035 Zivilisten getötet und 1650 weitere verletzt. Unter den Getöteten sind 90 Kinder. Die genaue Zahl der Toten ist jedoch schwer abzuschätzen, vermutlich liegt sie deutlich höher: Laut ukrainischen Angaben wurden alleine in der belagerten Hafenstadt Mariupol 3000 Zivilisten getötet.
Wie viele russische und wie viele ukrainische Soldaten sind gestorben?
Gesicherte Zahlen hierzu sind nicht zu bekommen, da sie auch kriegstaktisch relevant sind. Russland machte einmal Angaben zu den Verlusten: Am 2. März sprach das Verteidigungsministerium von 498 getöteten russischen Soldaten, 1597 Soldaten seien verletzt worden. Die Kreml-nahe Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ berichtete am Sonntag auf ihrer Internetseite von 9861 getöteten und 16153 verwundeten Soldaten. Die Zahlen wurden allerdings schnell wieder gelöscht. Nach aktueller Einschätzung der Nato starben in der Ukraine bislang zwischen 7000 und 15000 russische Soldaten.
Aufgrund historischer Erfahrungen zum Verhältnis zwischen Toten, Gefangenen und Verwundeten könne die Gesamtzahl der russischen Ausfälle auf 30000 bis 40000 geschätzt werden. Auch die Ukraine hält sich mit den Berichten über Opfer aus den Reihen ihrer Armee bedeckt. Am 12. März sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass bislang 1300 ukrainische Soldaten getötet worden seien. Bereits Ende Februar schätzte hochrangige Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums die Zahl der Opfer in der ukrainischen Armee auf rund 1500. Die tatsächliche Zahl dürfte also auch deutlich höher liegen.
Wie haben sich die russischen Truppen in der Ukraine vorbewegt?
Die russische Armee begann ihre Invasion mit zahlreichen Luftangriffen auf Ziele in der gesamten Ukraine. Dann rückten die Soldaten zum einen von der annektierten Krim sowie den moskautreuen Separatistengebieten Luhansk und Donezk ins Landesinnere vor. Die Hafenstadt Mariupol wurde dabei von zwei Seiten in die Zange genommen und ist seit Wochen eingekesselt. Zudem griffen die russischen Truppen die Region um die Stadt Charkiw an und bewegten sich außerdem auf die Hauptstadt Kiew zu.
Doch der Angriff geriet immer wieder ins Stocken. Westlichen Experten zufolge hat Russland die Wehrhaftigkeit der Ukraine unterschätzt. Hunderte Panzer der Invasoren konnten zerstört werden. Zudem gab es immer wieder Probleme mit dem Nachschub. Die in die Ukraine eingerückten russischen Landstreitkräfte stehen nach westlichen Angaben nur noch bei etwa 80 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit.
Zuletzt verstärkte die russische Armee ihre Luftangriffe. Am Donnerstag teilte der ukrainische Generalstab mit, binnen 24 Stunden habe man mehr als 250 Einsätze registriert. Die Hauptziele lagen den Gebieten Kiew, Tschernihiw und Charkiw. Auch zu Wasser wird der Krieg geführt. Russische Kriegsschiffe sollen die Hafenstadt Odessa beschossen haben. „Dieser Krieg wird weder leicht noch schnell enden“, meint der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan.
Wo gibt es die größten Zerstörungen?
Große Zerstörungen gibt es nicht nur in den Regionen Luhansk und Donezk, sondern auch rund um die Hauptstadt Kiew. Als besonders betroffen gilt die Hafenstadt Mariupol. Vor dem Krieg zählte die Stadt fast eine halbe Million Einwohner, war Universitätsstadt und Wirtschaftszentrum. Seit dem 1. März wird die Stadt belagert, schnell brachen Wasser-, Heizungs-, Strom und Internetversorgung zusammen.
Noch immer sollen sich rund 100.000 Menschen in der Stadt aufhalten. Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen wurden bombardiert. Eine geflohene Einwohnerin berichtete der Deutschen Presseagentur: „Die Stadt Mariupol gibt es nicht mehr.“
Wie viele Menschen sind geflohen?
Die UN berichten, dass mehr 3,6 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen sind. In Deutschland wurden fast 250000 Geflüchtete registriert. Die tatsächlichen Zahlen dürften höher sein, da es sich hierbei nur um die Ukrainerinnen und Ukrainer handelt, die in Kontakt mit den Behörden und der Bundespolizei standen. In den kommenden Wochen werden hunderttausende weitere Schutzsuchende erwartet.
Zu den Ukrainerinnen und Ukrainern, die das Land verlassen haben, kommen schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Viele machen sich auf den Weg in westukrainische Gebiete, die aber auch schon unter Beschuss stehen. Laut UN benötigen 13 Millionen Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe.
Welche Sanktionen hat der Westen gegen Russland verhängt?
Die westlichen Staaten haben so scharfe Sanktionen wie zuvor gegen Russland verhängt, die auf vielen Ebenen wirken: Die EU schloss drei russische Banken vom Zahlungsverkehr aus und fror die Vermögenswerte ein. Transaktionen mit einigen staatseigenen Unternehmen Russlands wurden verboten, sieben russische Banken können nicht mehr auf das Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift zugreifen. Von Letzterem sind Banken ausgenommen, über die russisches Gas und Öl bezahlt wird. Deutschland stoppte vorerst die geplante Gaspipeline Nord Stream 2, die USA verhängten ein Importverbot für Öl aus Russland. Die EU sperrte ihren Luftraum für alle russischen Flugzeuge, viele Hightech-Produkte dürfen nicht mehr nach Russland exportiert werden.
In der gesamten EU wurden die russischen Staatsmedien Russia Today und Sputnik verboten. Fast alle großen westlichen Unternehmen zogen sich aus Russland zurück – darunter McDonald’s, Starbucks, Ikea, VW, Netflix, Apple, Gucci und H&M. Die größten Kreditkartenanbieter wie Visa und Mastercard setzten ihre Arbeit in Russland aus, die EU sperrte Exporte von Luxusgütern nach Russland. Die EU sanktionierte 862 Personen, fror ihre Vermögenswerte ein und beschränkte ihre Reisefreiheit. Russland wurde von zahlreichen internationalen Sportwettbewerben ausgeschlossen.
Wie wirkten die Sanktionen bisher?
Der Rubel stürzte dramatisch ab, am Mittwoch war ein US-Dollar deutlich mehr wert als 100 Rubel. Auch deshalb erklärte Wladimir Putin, Russland werde Erdgas-Zahlungen von Deutschland und einigen anderen Staaten nur in Rubel akzeptieren. Die russische Zentralbank hob den Leitzins auf 20 Prozent an – ein Plus von 10,5 Punkten. Der Großteil der Rücklagen Russlands von 630 Milliarden US-Dollar liegt im Ausland und wurde eingefroren. Auch deshalb hat die russische Regierung Probleme, den Rubel zu stabilisieren. Einige russische Politiker und Oligarchen brachten ihr Vermögen noch vor den Sanktionen in Sicherheit. Auch Putin ließ kurz vor dem Überfall auf die Ukraine seine 87 Millionen Euro teure Yacht von Hamburg nach Kaliningrad bringen. In russischen Supermärkten sollen die Sanktionen zu Versorgungsproblemen führen.
Welche Verhandlungsrunden gab es zwischen der Ukraine und Russland?
Delegationen Russlands und der Ukraine verhandelten mehrfach, zu Beginn meist in Belarus. Am 28. Februar gab es das erste Aufeinandertreffen – ohne Fortschritte. In weiteren Gesprächsrunde am 3. und 7. März verständigte sich man auf Fluchtkorridore, anschließend warf man sich gegenseitig vor, die vereinbarte Waffenruhe gebrochen zu haben. Am 10. März trafen sich der ukrainische und russische Außenminister im türkischen Antalya, ebenfalls ohne Erfolg. Am 21. März fand eine weitere Verhandlungsrunde per Videoschalte statt, zuletzt soll beinahe täglich gesprochen worden sein.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte immer wieder seine Bereitschaft zu einem persönlichen Gespräch mit Kremlchef Wladimir Putin signalisiert. Russland lehnt das ab. Moskau fordert einen neutralen Status der Ukraine sowie unter anderem eine Demilitarisierung des Landes. Die Ukraine verlangt neben einer sofortigen Waffenruhe den Abzug der russischen Truppen sowie anschließende konkrete Sicherheitsgarantien. (mit dpa)