AboAbonnieren

Kommentar

Kommentar zum Kampfbegriff
„Klimaterrorismus“ ist Unwort des Jahres – und zwar völlig zu Recht

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
Die Hand eines Klimaaktivisten wird von Polizisten vom Boden versucht zu lösen.

Die Hand eines Klimaaktivisten wird von Polizisten vom Boden versucht zu lösen. Die Klimaproteste haben in vergangenen Monaten an Fahrt aufgenommen. Von Gegnern wurden sie mit dem Kampfbegriff „Klimaterrorismus“ belegt.

Sind Klimakleber „Terroristen“? Das Unwort des Jahres rückt Aktivisten in die Nähe brutaler Verbrecher.

Ist es ein Akt des „Terrors“, sich mit der Handfläche auf eine Flughafen-Landebahn zu kleben? Sind Zwanzigjährige, die Autos an der Weiterfahrt hindern, „Klimaterroristen“ (AfD)? Droht innerhalb der Klimaschutzbewegung gar eine „Klima-RAF“ (CSU-Mann Alexander Dobrindt) heranzuwachsen? Keinesfalls, urteilt eine Jury aus Sprachforschern: Sie kürte den Ausdruck „Klimaterrorismus“ zum „Unwort des Jahres 2022″.

Der Begriff kriminalisiere und diffamiere Klimaaktivisten und rücke sie in die Nähe brutaler Verbrecher. Durch die Gleichsetzung des Protests mit Terrorismus würden gewaltlose Protestformen zivilen Ungehorsams und demokratischen Widerstands in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt.

„Klimaterrorismus“: Heißgelaufene Debatte

Das Prädikat „Unwort des Jahres“ geißelt seit 1991 Wörter und Formulierungen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren und stigmatisieren oder verschleiernd und irreführend sind. Die Vokabel „Klimaterrorismus“ ist damit eine perfekte Wahl, denn sie erfüllt all diese Kriterien. In der heißgelaufenen Klimadebatte stehen politische Kampfbegriffe mit Terrorbezügen für eine sprachliche Radikalisierung vor allem im nichtlinken Lager, die vorsätzlich verschleiern, wer die wahre Verantwortung für die Misere trägt - und worum es den Aktivisten tatsächlich geht: die Erwärmung der Erde und die Durchsetzung längst beschlossener politischer Ziele.

Im Zorn auf die Schikanierung von Berufspendlern oder manche pathetische Kartoffelbreiaktion gerät aus dem Blick, dass sich die Proteste viel wirkungsvoller beenden ließen als mit Präventivhaft, Täterverteufelung oder verbalen Flächenbombardements in der Boulevardpresse: nämlich mit der Verwirklichung des 1,5-Grad-Ziels, zu dem sich nicht zuletzt der deutsche Bundestag verpflichtet hat.

Stattdessen diskutiert sich das halbe Land wund über die Zulässigkeit der Methoden des Widerstands. Die mediale Debatte zeigt dabei Anzeichen klassischer Täter-Opfer-Umkehr: Statt der politisch Verantwortlichen, die seit Jahrzehnten den Kampf gegen den Klimawandel schleifen lassen, haben sich diejenigen zu rechtfertigen, die darauf hinweisen.

Mit „Terror“ haben die Proteste wenig zu tun

Auf Platz zwei der Unwort-Wahl landete der von CDU-Chef Friedrich Merz zur Bezeichnung von Ukraine-Flüchtlingen verwendete Begriff „Sozialtourismus“, der 2013 bereits selbst „Unwort des Jahres“ war. „Die Perfidie des Wortgebrauchs besteht darin, dass das Grundwort ‚Tourismus‘ in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende freiwillige Reisetätigkeit impliziert“, schreibt die Jury um die Sprachwissenschaftlerin Constanze Spieß von der Universität Marburg. „Das Bestimmungswort ‚sozial‘ reduziert die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem profitieren zu wollen, und stellt die Flucht vor Krieg und die Suche nach Schutz in den Hintergrund.“

Auf Platz drei schließlich folgt der beschönigende Ausdruck „defensive Architektur“. Hinter dem Euphemismus verbergen sich Baumaßnahmen wie Gitter, Dornen oder Stachel, die verhindern sollen, dass etwa Obdachlose sich in Ladeneingängen oder tief liegenden Schaufenstern niederlassen. Die Jury sieht darin eine „menschenverachtende Bauweise, die gezielt marginalisierte Gruppen aus dem öffentlichen Raum verbannen möchte“.

Polizei und Klimaschutzaktivisten geraten am Rand von Lützerath aneinander.

Polizei und Klimaschutzaktivisten geraten am Rand von Lützerath aneinander.

Das Wort „Terrorismus“ - geboren in der Französischen Revolution - ist ein schwammiger Begriff. Lexika kennen mehr als 100 Definitionen. Ziel ist zumeist die Erzeugung von Angst und Schrecken durch radikal entgrenzte Brutalität, Morde, Entführungen, Bombenanschläge oder massive Sabotageakte.

Sind die Protestaktionen der „Letzten Generation“ ziviler Ungehorsam? Mit Sicherheit. Verstoßen einige davon gegen Gesetze? Keine Frage. Stehen sie in der Tradition der „Propaganda der Tat“ aus der Frühzeit der Anarchiebewegung im späten 19. Jahrhundert? Gewiss. Heiligt der Zweck die Mittel? Nicht in jedem Fall. Nerven sie gelegentlich kolossal? Mit Sicherheit. Und schließlich: Schaden manche naiv und pathetisch wirkenden Aktionen dem Ansehen der guten Sache? Ohne Zweifel.

Doch mit „Terror“ hat das alles wenig zu tun. Sprachliche Gewaltakte wie die Bezeichnung „Klimaterrorismus“ offenbaren weniger die tatsächliche Gefährdungslage als die tiefe Verunsicherung auf Seiten derer, die Macht und alte Gewohnheiten bedroht sehen.

Maß und Mitte verloren

Denn während mancher Politiker zivilen Ungehorsam im Iran, in China oder anderswo als humanistischen Freiheitskampf feiert, sieht man Kritikaktionen im eigenen Land weniger gern und würde - wie der eine oder andere Polizeigewerkschafter oder bayrische Provinzpolitiker - Klimaaktivisten gern als potenziellen Straftäter für 30 Tage präventiv in Haft nehmen oder die „Letzte Generation“ gleich als kriminelle Vereinigung gerichtlich verbieten lassen.

Wer als Terrorist gilt und wer nicht, unterliegt immer der Interpretation der Gegenseite. Für autoritäre Regime ist es leicht, politische Gegner pauschal als „Terroristen“ zu verunglimpfen, um Denunzierung, Verfolgung und Unterdrückung mit diffusen Sicherheitsbedrohungen zu rechtfertigen.

Denn tatsächlich ist der Unterschied zwischen „Freiheitskämpfer“ und „Terrorist“ an der reinen Wahl der Mittel äußerlich nicht verlässlich ablesbar - er definiert sich allein durch politische Interpretation. Sicher ist jedoch: Terrorismus umfasst praktisch immer radikale physische Gewalt inklusive Zerstörung, Tod und Mord. Wer diesen Ausdruck im Kontext der aktuellen Klimaaktionen verwendet, hat Maß und Mitte verloren.

Ein Appell zur verbalen Abrüstung auf allen Seiten

Im Zorn auf die Aktionen der Aktivisten sind Kampfbegriffe vom rechten Rand ins bürgerliche Lager eingesickert. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Denn Sprache definiert die Wirklichkeit mit. „Bild“ zetert seit Monaten gegen den „Klebe-Wahnsinn“ der „wohlstandsverwahrlosten Rotzlöffel“ und den „Autobahn-Terror“ der „Umwelt-Rowdys“. Zitat aus einem Kommentar: „Die kleinen Kriminellen könnten auf direktem Wege in den Terror sein, wenn sie nicht bald mal runterkommen.“ Man macht sich ganz bewusst die Wut von Berufspendlern zunutze und schürt sie mit Inbrunst, denn Emotionen sind der Treibstoff des Boulevard.

So entsteht ein Klima der Verrohung, das echte Gewaltakte wahrscheinlicher macht. Fachleute sind da zurückhaltender. Zu Dobrindts pompöser Warnung vor einer „Klima-RAF“ etwa hat Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang eine klare Haltung: „Aus meiner fachlichen Perspektive kann ich nur sagen: Ich nenne das Nonsens.“

Die Wahl des Unwortes 2022 ist also vor allem eines: ein dringender Appell zur verbalen Abrüstung auf allen Seiten.