Der Bonner Virologe Hendrik Streeck erklärt, warum er in den Bundestag will, und warum er für eine sofortige Aufarbeitung der Pandemie plädiert.
Virologe Streeck„Es war falsch, diese Art von Druck auf die Ungeimpften aufzubauen“
Herr Professor Streeck, im Bundestag sitzen zurzeit 15 Ärzte. Der prominenteste ist Bundesgesundheitsminister. Jetzt kandidieren Sie für einen Platz im nächsten Parlament. Wollen Sie der Karl Lauterbach der CDU werden?
Hendrik Streeck: Na, ich möchte mit meiner Politik in der CDU auf jeden Fall mehr wirklich umsetzen und weniger Schaum schlagen als Herr Lauterbach in der Ampel - insofern, nein! Ich fordere lange schon eine andere Politik aus dem Bundesgesundheitsministerium. Mir geht es aber immer darum, anderen Menschen zu helfen. Deshalb bin ich Arzt geworden. In der Pandemie ist dieser Impuls politisch geworden. Ich denke da aber nicht nur an Gesundheitspolitik. Auch wenn ich hier Experte bin und aus der Praxiserfahrung schöpfen kann, will ich in erster Linie „Volksvertreter“ der Bonnerinnen und Bonner sein. Im historischen Wahlkreis Konrad Adenauers, den die CDU zuletzt vor 27 Jahren gewinnen konnte, gibt es vieles, wofür es in Berlin einen starken, durchsetzungsfähigen Abgeordneten braucht.
Die Ergebnisse der Direktkandidaten in Bonn waren in den vorigen Wahlen immer knapp. Womit holen Sie die entscheidenden Prozentpunkte?
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Viele Menschen kennen mich seit der Pandemie für eine liberale, pragmatische und mutige Position. Für eine solche Politik trete ich an und ich denke, es ist auch das, was viele verärgerte Bürger sich wünschen. Genauso will ich den Menschen zeigen, dass Politik, die etwas verändert, nicht nur aus der Bubble der Berufspolitiker kommen kann, sondern von Experten, die es auch außerhalb der Politik gewöhnt sind, für Themen zu kämpfen. Auch meine Erfahrung in der Wissenschaft, in der ja um unterschiedliche Sichtweisen offen und unideologisch gefochten wird, ist etwas, was ich in der polarisierten Welt für wichtig finde.
Quereinsteiger haben es schwer in der Politiker, die ganz andere Logiken hat als zum Beispiel der Medizinbetrieb. Es gibt doch kaum ein hierarchischeres System als eine Klinik. Haben Sie als Direktor der Virologie an der Uniklinik Bonn keine Sorge, dass Ihnen da etwas abgeht, wenn Sie auf einmal nicht mehr der Bestimmer sind? Hier in Bonn sind Sie der Chef, in Berlin ein Hinterbänkler.
Natürlich werde ich mich in dem neuen Metier einarbeiten müssen. Aber das ist mir bisher immer schnell gelungen, zuletzt in der Bewerbung um die Bundestagskandidatur. Manche „Altvorderen“ in der CDU haben sich gewundert, wie schnell und wie erfolgreich das gelaufen ist. Zuvor habe ich schon in der Pandemie gezeigt, dass ich mir im politischen Betrieb Gehör verschaffen und mich durchsetzen kann.
Armin Laschet, der Sie 2020 in den Corona-Expertenrat der Landesregierung geholt hat, hat Ihnen damals empfohlen, Ihre CDU-Mitgliedschaft nicht an die große Glocke zu hängen.
Das war ein sehr weiser Rat. Ein Virus ist nicht politisch. Aber in der Corona-Zeit wurde es politisch. Aus allem wurde ein politischer Kampf gemacht – zwischen dem „laschen Laschet“ und dem „taffen Söder“ zum Beispiel. Da war es gut, dass ich kein parteipolitisches Etikett hatte, das man mir in jeder Sachfrage hätte ankleben können. Mein Anliegen ist es auch, primär mehr Wissenschaftlichkeit in die Politik und nicht Politik in die Wissenschaft zu transportieren.
Sie haben auf Konrad Adenauer Bezug genommen, eine CDU-Ikone. Was bedeutet für Sie die politische Beheimatung in der Partei?
Unser Land ist auf christlichen Werten aufgebaut. Die christliche Tradition macht unsere Kultur aus. Und auch wenn die Gesellschaft längst nicht nur aus Christen besteht, halten christliche Werte und Vorstellungen die Gesellschaft wie ein Klebstoff zusammen. Das Wissen darum wird in der CDU am ehesten gelebt. Das ist mir wichtig, genau wie das Bemühen, Menschen in einer Zeit ständiger Veränderungen einen Halt, einen Anker zu bieten. Das verstehe ich unter „konservativ“ – nicht fortschrittsfeindlich zu sein, wie könnte ich!, sondern Sinn zu haben für das Beständige.
Sie haben Ihrem Buch über die Corona-Zeit den Titel „Nachbeben“ gegeben – ein Bildwort aus der Geologie. Was sind die tektonischen Verschiebungen aus der Zeit der Pandemie?
Wir hatten schon vor Corona Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, ein verbreitetes Gefühl bei vielen Menschen, dass die Regierung sie mit ihren Interessen und Bedürfnissen nicht wahrnimmt und nicht vertritt, und in der Folge einen Schwund des Vertrauens in die Institutionen unseres Staates. Die Pandemie hat für all das als Katalysator gewirkt. Die Gesellschaft driftete immer weiter auseinander: Vertrauen in die Corona-Politik auf der einen Seite, Misstrauen bis zur kompletten Ablehnung auf der anderen. Hier müssen wir die entstandenen Gräben überwinden. Mit den besagten Nachbeben haben wir bis heute zu tun.
Woran denken Sie da besonders?
Die junge Generation laboriert vermehrt an psychischen Störungen, Depression, Magersucht und vielem mehr. Auch die Lernrückstände aus der Corona-Zeit wirken fort bei denen, die heute an der Uni sind oder vor dem Abschluss stehen. Das sind nur zwei Beispiele. Wir müssen doch die Folgen der Pandemie und unserer Maßnahmen als Ganzes bewerten und nicht immer noch in die Falle treten, es aus rein virologischer Sicht zu bewerten. In diese Falle gehen noch heute viele. Aber das sind Sichtweisen aus dem Elfenbeinturm, die mit der Realität der Betroffenen nichts zu tun haben.
Wenn Sie vor diesem Hintergrund für eine Aufarbeitung der Corona-Zeit plädieren, ist das also mehr als der Appell, für eine nächste Pandemie medizinisch besser gerüstet zu sein als für diese?
Aufarbeitung muss auf drei Ebenen passieren. Erstens wissenschaftlich. Da würde ich mir eine große Konferenz mit Vertretern verschiedenster Disziplinen wünschen. Was wir Virologen beizutragen haben, ist ja eine eher simple Gleichung: „Weniger Kontakte, weniger Infektionen.“ Punkt. Aber natürlich reicht das nicht. Wir haben gesehen, was passieren kann, wenn eine Gesellschaft einseitig auf Isolierung setzt. Die zweite Ebene ist die gesellschaftlich-politische. Wie war es eigentlich um die Entscheidungswege im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik bestellt? Ehrlicherweise muss man sagen: „Die“ Wissenschaft gibt es ebenso wenig wie einhellige Antworten von Wissenschaftlern. Wie professionalisiert man also wissenschaftliche Beratung?
Was schlagen Sie da vor?
In anderen Ländern gibt es einen wissenschaftlichen Chefberater, der für die Regierung nach festgelegten Kriterien Expertengremien bildet, deren Arbeit begleitet, die Ergebnisse kommuniziert und gegebenenfalls auch das Abweichen von wissenschaftlicher Empfehlung und Regierungshandeln verdeutlicht. Es ist ja nicht so, dass Wissenschaftler das Geschäft der Politik übernehmen könnten. Die Entscheidung muss immer bei der Politik liegen.
Ihr Buch ist das Bewerbungsschreiben um den Chefberater-Posten?
Nein. Es ist mein Schlussstrich unter zwei Jahre Werben für Aufarbeitung. Manchen mag es deshalb hart im Ton erscheinen. Aber mir geht es darum, dass wir lernen, was Schwachstellen in unserer Gesellschaft sind.
Es fehlt noch die dritte Ebene der Aufarbeitung, von der Sie sprachen.
Ja, und die zielt auf Ihre Zunft: Die Medien müssen sich mit ihrer Rolle in der Pandemie beschäftigen.
Inwiefern?
Journalisten haben fälschlich vorgegeben, sie könnten den richtigen Weg oder Vorabveröffentlichung von Studien beurteilen: „Gute Studie, schlechte Studie.“. Oftmals wurden Grenzen zum Aktivismus überschritten. Wissenschaftsjournalisten haben die Parole ausgegeben, „ohne das Virus leben ist das Ziel“, obwohl alle Experten vor dieser „No-Covid-Vision“ gewarnt haben.
Alle Experten? Die „No-Covid-Strategie“ wurde von hoch angesehenen Wissenschaftlern vertreten. Ich nenne nur Michael Hallek von der Kölner Uni oder Melanie Brinkmann aus Braunschweig.
Zeigen Sie mir und den Lesern ein Beispiel, in welcher „No Covid“ langfristig funktioniert hat?
Auf der lit.Cologne kommt es diese Woche zwischen Ihnen und Ihrem Kollegen Christian Drosten von der Berliner Charité in Sachen Aufarbeitung nur zu einem Fernduell. Drostens Buch ist an diesem Dienstag Thema, Ihres am Mittwoch. Gehen Sie einander öffentlich aus dem Weg?
Ich hätte nichts gegen einen gemeinsamen Auftritt gehabt. Die Veranstalter haben getrennte Formate bevorzugt. Unsere Bücher sind allerdings auch sehr unterschiedlich. Christian Drostens Gesprächsband läuft auf die Rechtfertigung hinaus, dass in Deutschland im Grunde alles ganz gut gelaufen sei und wir im Großen und Ganzen gut durch die Pandemie gekommen seien. Da wird rückschauend dann viel mit dem Präventions-Paradox argumentiert.
Das bedeutet?
Natürlich ist ist durchaus möglich, dass Maßnahmen tatsächlich wirksam sind und die Fallzahlen deutlich senken. Nicht haltbar ist aber, dass die Maßnahmen der definitive Grund für das Ausbleiben hoher Infektionszahlen sind. Nur weil eine Annahme mit der beobachteten Tatsache übereinstimmt, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Annahme auch tatsächlich richtig ist – eine Fragestellung, mit der sich die Kausaltheorie beschäftigt. Diese Art von Logik ist nicht neu und findet sich in der gesamten Menschheitsgeschichte. Sie wurde zum Beispiel von antiken Priestern verwendet, um den Nutzen von Götzenverehrung mit der Abwesenheit vorhergesagter Katastrophen zu erklären. Die Corona-Zeit auf diese Weise Revue passieren zu lassen, das ist in meinen Augen keine Aufarbeitung, wie mein Buch sie fordert. Zumal ich mich frage: Was sind denn die Parameter für „gut gelaufen“? Übersterblichkeit? Da liegt Deutschland im Mittelfeld. Schulschließungen? Hier sind wir fast negativer Spitzenreiter: Ein Schuljahr hat 184 Tage. In Deutschland waren die Schulen 183 Tage lang dicht, länger nur noch in Polen. In Frankreich dagegen waren es 56 Tage, in Schweden 31 Tage. Und hebt man auf die gesellschaftlichen Zerwürfnisse der Corona-Zeit ab, stehen wir auch da nicht signifikant besser da als andere Länder.
Wenn Sie an das bekannte Wort von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) denken, dass wir einander nach der Pandemie viel zu verzeihen haben werden, wo fangen Sie an?
Es ist in der Corona-Zeit etwas wirklich Schlimmes passiert, was auch schon in allen Pandemien der Geschichte passiert ist: die Suche nach den Schuldigen. Bei der Pest im Mittelalter waren es die Juden, bei Aids waren es die Homosexuellen, und bei Corona waren es erst „die Asiaten“, danach die Leute aus Heinsberg, wo es das erste Spreader-Event gab, und am Ende waren es die Ungeimpften. Diese Ausgrenzungen, diese Stigmatisierungen waren der größte Fehler unserer Gesellschaft. Und deshalb müssen wir hier mit dem Heilen von Verwundungen und mit dem Verzeihen beginnen.
In Ihrem Buch warnen Sie auch vor Geschichtsklitterungen. Dazu gehört die Versuchung, die Kontroversen von damals mit dem Wissen von heute zu beurteilen. Hinterher ist man schließlich immer schlauer. Gilt das nicht auch für die damalige Impfdebatte? War es so falsch, eine möglichst hohe Impfquote anzustreben?
Nein, aber es war falsch, diese Art von Druck auf die Ungeimpften aufzubauen. Zumal damit das Gegenteil dessen eingetreten ist, was man erreichen wollte. Der Druck hat die Bereitschaft zur Impfung eher stagnieren lassen.
Sehen Sie – wir sind inzwischen im Oktober 2024 – überhaupt noch die Chance auf die von Ihnen propagierte Aufarbeitung?
Sie ist noch möglich, müsste aber streng genommen spätestens diese oder nächste Woche beginnen.
Meinen Sie das buchstäblich?
Ja, weil wir noch in dieser Legislaturperiode beginnen müssen. Im Wahljahr 2025 will das in der Ampel mit Sicherheit niemand mehr in Angriff nehmen.
An welche Form der politischen Aufarbeitung denken Sie?
Untersuchungsausschüsse neigen immer zur Anklage, und dann sind wir direkt wieder in der leidigen, fruchtlosen Schulddebatte. Deshalb würde ich eine Enquete-Kommission des Bundestags vorziehen. Zwar sitze ich in Düsseldorf schon in solch einem Gremium – nicht gerade die spannendste Veranstaltung. Aber ich sage mir: Besser als gar nichts. Am Ende geht es doch darum, dass wir nicht für die Akten aufarbeiten, sondern solche Gremien als Anlass nehmen, eine gesellschaftliche Debatte zu führen und wie Erwachsene nicht auf andere zu zeigen, sondern sich echte Learnings ganz praktisch hinter die Ohren zu schreiben.
Zur Person
Hendrik Streeck, geb. 1977, ist seit 2019 Direktor des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik Bonn. Dort ist er Nachfolger von Christian Drosten, der an die Berliner Charité wechselte. Streeck hat in seinem Medizinstudium unter anderem an der Harvard Medical School in den USA über Aids geforscht und wurde zu diesem Thema in Bonn promoviert. Danach war Streeck sechs Jahre Professor an verschiedenen US-Universitäten.
Am Beginn der Corona-Pandemie 2020 verantwortete Streeck eine viel beachtete Studie über den Ausbruch des Virus im Kreis Heinsberg. Er gehörte dem Corona-Expertenrat der NRW-Landesregierung an und wurde 2021 auch in das entsprechende Gremium der Bundesregierung berufen.
Streeck ist seit 2017 CDU-Mitglied. Im August bestimmte ihn der Bonner Kreisverband seiner Partei zum Kandidaten für die Bundestagswahl 2025.
Streecks neues Buch auf der lit.Cologne Spezial
Ende September erschien von Hendrik Streeck das Buch „Nachbeben. Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können“, Verlag Piper, 320 Seiten, 22 Euro.
Auf der „lit.Cologne Spezial“ spricht er darüber mit der Journalistin Bettina Böttinger. Mittwoch, 9. Oktober, 19 Uhr im Comedia Theater (Roter Saal), Vondelstraße 4-8, 50677 Köln. Tickets gibt es hier. www.lit.cologne.de
Wir verlosen dreimal zwei Karten. Wenn Sie gewinnen möchten, schicken Sie bitte eine Mail mit dem Betreff „Hendrik Streeck“ und Ihrem vollständigen Namen bis Dienstag, 8. Oktober, 20 Uhr, an: ksta-kultur@kstamedien.de
Bereits an diesem Dienstag ist auch Christian Drosten zu Gast auf der lit.Cologne. Mit Co-Autor Georg Mascolo stellt er den Gesprächsband „Alles überstanden?“ vor.
Neue Kolumne: Streecks politische Sprechstunde
In einer eigenen Kolumne schreibt Hendrik Streeck künftig im „Kölner Stadt-Anzeiger“ über politische und gesellschaftliche Themen. „Ich möchte einen etwas anderen Blick auf Themen werfen, über die wir in Deutschland debattieren. Dafür bringe ich nicht nur meine Expertise als Arzt und Wissenschaftler und Wissenschaftler mit, sondern auch die Erfahrungen, die ich während meiner Arbeit in verschiedenen Ländern sammeln konnte, unter anderem in den USA, Südafrika und Brasilien. Statt auf immer wieder neuen Empörungswellen zu reiten, sollten wir uns um die wirklich wichtigen Fragen kümmern, die für die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend sind. Eine Kolumne sehe ich als einen guten Ort dafür.“