Der WM-Auftritt der deutschen Nationalmannschaft ist ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft.
Kommentar zum WM-ProtestGroße Geste, schwache Leistung
Zum Mannschaftsfoto die Hand vor den Mund: Alle Welt sollte diese Geste sehen. Die deutsche Fußballnationalelf wollte der Unterwürfigkeit etwas entgegensetzen, mit der sich der Deutsche Fußball-Bund vom Weltverband Fifa das Tragen der „One Love“-Kapitänsbinde in den WM-Spielen hatte abkaufen lassen. Auch das hätte eine Geste sein sollen – Protest gegen Menschenrechtsverletzungen in Katar und Unterstützung für Diversität. Für ihren Auftritt vor dem Spiel haben die deutschen Fußballer ebenso Kritik kassiert wie für die anschließende Pleite in der Partie gegen Japan.
Wir verhandeln Identitätsthemen, statt uns um gute Konzepte zu bemühen
Große Geste, schwache Leistung – das könnte auch als Sinnbild der Verhältnisse in Deutschland herhalten. Es scheint heute im Umgang mit Problemen oft mehr um die Haltungsnoten zu gehen als um den Erfolg. Wir verhandeln mit großer Leidenschaft Identitätsthemen, statt uns ebenso intensiv um wirkungsvolle Konzepte zu bemühen, mit denen wir in Zukunft etwa der Kluft zwischen Arm und Reich begegnen, den Erfolg unserer Wirtschaft sichern, die Folgen der Energiekrise mildern oder die Klimakatastrophe vielleicht doch noch abwenden können.
Wir leben in Zeiten permanenter Bekenntnisse. Politikern, Funktionären und Interessenvertretern ist es sehr, sehr wichtig, gut dazustehen. Und auch große Teile des öffentlichen Diskurses richten sich hingebungsvoll auf Haltungsfragen. Dass daraus immer Bewegung und Veränderung zum Positiven entsteht, darf man bezweifeln. Gut dastehen und schön reden ist eben einfacher als tatkräftig handeln.
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Natürlich sind Bekenntnisse in Wort und Geste wichtig. Wenn Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Russland und anderen Unrechtsstaaten deutlich macht, wofür unsere Gesellschaft steht, dann ist das gut. Letztlich aber wird auch sie in ihrem Job nicht daran gemessen, welche Zeichen sie sendet, sondern was sie politisch für Deutschland und die demokratische Welt bewirkt.
Für ihre Vorgänger im Außenamt war interessanterweise oft nicht die große Geste, sondern der unscheinbare, stille Weg der Diplomatie das Mittel der Wahl.
Zurück zum Fußball: Legt man das Ausmaß an Unmoral und Filz zugrunde, das in der Welt der Fifa-Funktionäre offenbar normal ist, dann ist Katar vielleicht genau der richtige Austragungsort für diese WM. Weil ein Unrechtsstaat am besten zum verlotterten, korrupten System der Fifa passt.
Daran ändert übrigens keine noch so gut gemeinte Geste etwas. Sondern nur das entschlossene Handeln aller Gegner des Fifa-Machtapparats. Der erste Schritt müsste es sein, einen aussichtsreichen Kandidaten gegen Fifa-Präsident Gianni Infantino in Stellung zu bringen.
Veränderung braucht Menschen, die sie voranbringen. Und diese Menschen brauchen Ideen, Willenskraft und Macht. Das alles ist sehr handfest. Bloße Gesten, vollmundige Bekenntnisse verändern selten die Welt. Taten schon.