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„Besorgniserregend“Zahl der Gewaltdelikte gegen Polizisten um 39 Prozent gestiegen

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Blumen und Kerzen liegen vor der Polizeiinspektion in Kusel.

Düsseldorf/Kaiserslautern – Von einem „Defizit an Erklärungen“ spricht der Leitende Oberstaatsanwalt Uwe Gehring bei einer Pressekonferenz in Kaiserslautern nach dem gewaltsamen Tod zweier Polizisten im Landkreis Kusel. Die Polizisten, die offenbar nur deshalb zu Opfern wurden, weil sie die mutmaßlichen Täter, den 38 Jahre alten Andreas S. und einen 32-jährigen Bekannten, bei einer Verkehrskontrolle beim Wildern erwischt haben. Kann es wirklich sein, dass zwei Polizeibeamte, 24 und 29 Jahre alt, einen derart nichtigen Anlass mit ihren Leben bezahlen mussten?

„Es gehört nicht zu unserer Vorstellung von Deutschland, dass jemand auf offener Straße mit Jagdwaffen anfängt zu schießen und das Feuer eröffnet, bloß weil er vielleicht beim Wildern erwischt wird. Deswegen ist der Fall verstörend“, fährt Gehring fort. „Es gibt wohl kaum ein vernünftiges Motiv für einen Mord“, sagt Gehring. Es falle aber ein „Defizit an Erklärungen“ bei Kapitaldelikten auf. „Manchmal wissen Täter selbst nicht, warum sie was gemacht haben. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Wir können ja nur die Sachverständigen holen und die Psychiater und können hoffen, dass der Verdächtige auch Angaben zu seinen Motiven macht.“

Der Staat als Hassobjekt

Gehring glaubt zu wissen, dass der Polizei „in konkreten Verfahren Vorwürfe gemacht werden, sie würde irgendwie falsch vorgehen, sie würde Gewalt anwenden, die nicht notwendig ist“. Bei der Untersuchung dieser Fälle stelle sich immer wieder heraus, dass sie „keinen Anhaltspunkt in der Realität haben“, sondern rein ideologisch begründet sind. Auch der tragische Fall in Kusel könne damit zusammenhängen, dass hier jemand „den Staat als Hassobjekt“ sehe.

Alles zum Thema Herbert Reul

Was der Leitende Oberstaatsanwaltschaft beschreibt, ist mehr als eine gefühlte Wahrheit, sondern lässt sich mit Statistiken belegen.

Zahl der Gewaltdelikte gegen Polizisten in NRW um 39 Prozent gestiegen

Die Zahl der Gewaltdelikte gegen Polizisten in Nordrhein-Westfalen ist seit 2012 nach Angaben des Landeskriminalamts bis 2019 um mehr als 39 Prozent gestiegen, von 6652 auf 9241 Fälle. Im Jahr 2020 war zum ersten Mal ein merklicher Rückgang um 13 Prozent auf knapp 8100 Delikte erkennbar.

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Udo Gehring, Leitender Oberstaatsanwalt

Das könne aber mit den Lockdowns während der Corona-Pandemie zusammenhängen, so das LKA. In meisten Fällen handelte es sich um Körperverletzungen und Widerstand gegen Polizeibeamte. Trotz dieses Rückgangs hat sich die Zahl der versuchten Tötungsdelikte 2020 von vier auf acht verdoppelt.

28-Jähriger in Gelsenkirchen getötet

In Gelsenkirchen war 29. April der Beamte eines Sondereinsatzkommandos getötet worden, als seine Einheit die Wohnung eines mutmaßlichen Drogendealers stürmte. Der 28-Jährige hatte in einem Team aus zehn Beamten mit einer Ramme die Wohnungstüre aufgebrochen, als zwei Schüsse fielen. Eine Kugel traf ihn in die rechte Seite, durchschlug Herz und Lunge.

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Der 29-jährige Täter wurde im Dezember 2020 zu lebenslanger Haft verurteilt. „Sie sind ein Polizistenhasser und wollten einen Polizisten töten“, sagte der Richter des Essener Schwurgerichts bei der Urteilsbegründung.

Anfang Mai 2020 entging ein Streifenpolizist (28) bei einer Verkehrskontrolle in Gevelsberg nur knapp dem Tod, als ein Mann völlig unvermittelt mehrere Schüsse auf ihn und seinen Kollegen abfeuerte. Sie trafen ihn am Oberkörper. Wahrscheinlich rettete nur die Schutzweste sein Leben.

85000 Polizeibeamte in Deutschland Opfer von Gewalt

Die Zahlen aus NRW spiegeln den Bundestrend wider. Deutschlandweit stiegen sowohl die Fall- als auch die Opferzahlen im Jahr 2020 auf einen neuen Höchstwert. Knapp 85000 Polizeibeamte wurden Opfer von Gewalttaten, eine Steigerung von 5,9 Prozent gegenüber 2019. Im Lagebild des Bundeskriminalamts für 2020, der im September 2021 veröffentlicht wurde, weisen die Verfasser eigens darauf hin, dass „vor allem der sprunghafte Anstieg“ der Anzahl von Polizisten, die Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten wurden, „besorgniserregend“ sei.

Insgesamt seien 114 Polizisten bei Mord- und Totschlagsdelikten zum Teil schwer verletzt worden. Als einziger Todesfall sei der SEK-Beamte aus Gelsenkirchen zu beklagen.

GdP: Respektlosigkeit hat in der Pandemie zugenommen

„Wir fordern schon lange, dass gegen die Gewalt und die Respektlosigkeit, die Polizisten entgegenschlägt, vorgegangen wird“, sagt Michael Maatz, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW. Die Pandemie habe diesen Trend noch verstärkt. Die Demonstrationen und sogenannten Spaziergänge von Impfgegnern „werden auch dazu genutzt, um unsere Kolleginnen und Kollegen anzugreifen, zu beleidigen und mit Gewalt zu attackieren.“

Es müsse ein Umdenken in der Gesellschaft erfolgen, sagt Maatz. Das sei Sache der Politik und eine langfristige Aufgabe. „Das muss in den Schulen beginnen. Sie müssen vermitteln, wofür unser Staat steht und dass die Polizei für die Sicherheit der Bürger verantwortlich ist. Respekt und Anstand müssen wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden.“ Die Polizei vermisse entsprechende Konzepte.

Verkehrskontrollen gelten als besonders gefährlich

Verkehrskontrollen wie im Fall der beiden getöteten Polizeibeamten im Landkreis Kusel seien besonders gefährlich, sagt Maatz, der selbst in der Polizeiausbildung tätig war. „Bei einer Verkehrskontrolle wissen wir nie, mit wem wir es zu tun haben. Das immer sehr spontan und macht die Situation gefährlich.“ Auf die Festnahme einer bestimmten Person könne man sich vorbereiten, durch vorherige Überprüfung der Personalien und der Örtlichkeit.

Die Politik reagierte am Mittwoch auf den Tod der beiden Beamten mehr oder minder erwartbar. Mehrere Innenminister der Unionsparteien haben nach dem Doppelmord an zwei Polizeibeamten in Rheinland-Pfalz höhere Strafen für Angriffe auf Polizisten gefordert.

„Die Mindeststrafen müssen erhöht werden, auf mindestens ein halbes Jahr Haft“, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) dem Sender Bild TV. In der vergangenen Legislaturperiode seien zwar die Strafen auf bis zu fünf Jahre Haft verschärft worden, Geldbußen als Mindeststrafe reichten jedoch nicht aus.

NRW-Innenminister Reul: „Rumquatschen reicht nicht"

Auch Saarlands Innenminister Klaus Bouillon (CDU) forderte „deutliche Zeichen“. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) mahnte mehr gesellschaftliche Rückendeckung für die Polizei an: „Die Polizisten wollen auch wissen, dass wir auch etwas für sie tun.“ Dazu gehöre bessere Ausrüstung. „Rumquatschen“ reiche nicht.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte Respekt vor der Polizei. „Das sind die Männer und Frauen, die jeden Tag und jede Nacht ihren Kopf für unsere Sicherheit hinhalten“, sagte er. Sie hätten „verdammt nochmal die volle Rückendeckung der politischen Führung aus allen Parteien verdient“. (mit dpa)