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„Dringender Handlungsbedarf“Wieso Kinder und Jugendliche psychisch immer stärker belastet sind

Lesezeit 6 Minuten
Zukunftsängste und depressive Symptome: Kinder und Jugendliche fühlen sich oft belastet. Nailia Schwarz via www.imago-images.de

Zukunftsängste und depressive Symptome: Kinder und Jugendliche fühlen sich oft belastet.

Kindern und Jugendlichen geht es Ende 2024 deutlich schlechter als früher. Krisen, Kriege und auch soziale Medien belasten viele, wie aus einer neuen Studie hervorgeht.

Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland verschlechtert sich zunehmend. Die Corona-Pandemie hat Spuren hinterlassen – aber nicht nur sie. Die Sorgen und Zukunftsängste vor Kriegen in Europa und im Nahen Osten, Terrorismus, wirtschaftlichen Unsicherheiten und der Klimakrise haben „deutlich zugenommen“, heißt es in einer neu veröffentlichten systematischen Umfrage (COPSY), die bislang nur als Preprint erschienen ist.

Dafür hat ein Forschungsteam des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf deutschlandweit Daten von 2865 Sieben- bis 22-Jährigen ausgewertet – über einen Zeitraum von 2020 bis 2024. Zum Wohlbefinden und zur psychischen Gesundheit wurden Teilnehmende der Längsschnittstudie zu unterschiedlichen Zeitpunkten online befragt. Etwa zu Beginn der Pandemie, während des Lockdowns, im ersten Pandemiewinter, unter gelockerten Maßnahmen, zu Beginn des Ukrainekriegs, während der Energiekrise im Herbst 2022, im Kontext des eskalierten Israel-Hamas-Konflikts.

Belastung höher als vor der Pandemie

Das Ergebnis: „Erheblich beeinträchtigt“ sei die gesundheitliche Lebensqualität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vor allem zu Beginn der Pandemie gewesen. Der Zustand habe sich in den Folgejahren zwar wieder verbessert – bleibt aber im Herbst 2024 auf einem um fünf Prozent erhöhten Niveau im Vergleich zu gemessenen Werten vor der Pandemie. Hinweise auf ein weiteres Abfallen gebe es keine, ein positiver Trend habe sich bislang leider nicht abgezeichnet.

„Wir sehen also eine Erholung von der Corona-Pandemie, aber eine Verschlechterung im Vergleich zu vor Corona“, erläuterte Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer im Gespräch mit dem Science Media Center (SMC). Auf den Alltag übertragen könne man sich vorstellen, dass in einer Schulklasse mit 25 Kindern fünf sitzen, bei denen es einen Abklärungsbedarf gebe, ob psychologische Hilfe gebraucht werde. Die Ergebnisse decken sich mit Befunden des Deutschen Schulbarometers, das bei 21 Prozent der 8- bis 17-Jährigen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten feststellte.

Manche Kinder sind gefährdeter als andere

Nicht alle Kinder und Jugendliche sind gleichermaßen anfällig. Risikofaktoren sind dem Bericht zufolge eine niedrige elterliche Bildung, psychische Probleme der Eltern, ein Migrationshintergrund, ein beengter Wohnraum. Rund 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen gehörten im Herbst 2024 zu einer solchen Risikogruppe.

Andersherum hätten persönliche, familiäre und soziale Ressourcen „eine schützende Wirkung“, wenn es um die psychische Gesundheit geht, heißt es im Bericht. Kinder und Jugendliche, die viel gemeinsame Zeit mit der Familie verbringen und sich von ihrem sozialen Umfeld gut unterstützt fühlen, haben demnach ein fünf bis zehnfach geringeres Risiko für psychische Auffälligkeiten, ängstliche und depressive Symptome.

Soziale Medien als Belastung

Ein weiterer Faktor, der das Wohlbefinden junger Menschen beeinflusst: ein über die Jahre gleichbleibend hoher Medienkonsum. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an, digitale Medien mindestens vier Stunden am Tag zu privaten Zwecken zu nutzen. Darüber hinaus nutzt ein Großteil der Kinder und Jugendliche digitale Medien zusätzlich ein bis zwei Stünden für schulische Zwecke. 32 Prozent gaben an, dass ihnen in den sozialen Medien oft Inhalte begegnen, die sie belasten. Rund ein Viertel gab an, dass ihnen die Nutzung nicht gut tue und und sie dort Ausgrenzung und Abwertung erfahren.

„Der Zusammenhang zwischen der Mediennutzungszeit und der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist sehr deutlich zu erkennen“, sagt dazu Studienautorin Anne Kaman. „Jede Stunde Medienkonsum geht mit einem bis zu 15-fach erhöhten Risiko für psychische Auffälligkeiten einher.“ Ein Medienverbot unter 16 Jahren, wie etwa in Australien praktiziert, ist nach Sicht von Kaman aber wenig zielführend. Vielmehr sollten Kinder und Jugendliche schon früh erlernen, wie sie mit sozialen Medien umgehen können. Da seien die Schulen gefragt. „Sicherlich müssen hier auch die Eltern mit ins Boot geholt werden, im Umgang mit sozialen Medien und ihren Kindern geschult zu werden.“

Weltweit sind Kinder psychisch belastet

Nicht nur das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist gefährdet. Die „Lancet Psychiatry Commission on Youth Mental Health“ zeigt sich weltweit besorgt. In einem Beitrag im September 2024 sprach die internationale Expertengruppe von einer „globalen Krise der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen“ – durch die Belastungen der Corona-Pandemie, ihrer Folgen, aber auch großen Veränderungen in vielen Gesellschaften über die letzten zwei Jahrzehnte.

Was also kann diesen Negativtrend stoppen? Die Gesundheitsversorgung speziell für junge Menschen müsse gesellschaftlich und politisch stärker priorisiert werden, fordern die internationalen Expertinnen und Experten. So sieht das auch die deutsche Forschungsgruppe. Gezielte ressourcenorientierte Präventions- und Interventionsmaßnahmen seien dringend erforderlich, um jungen Menschen bei der Bewältigung dieser Krisen zu helfen und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit abzumildern, heißt es in der Preprint-Studie.

Ein Konzept für Deutschland fehlt

Nur welche konkret? Viele Strukturen fehlen gleichzeitig im Land. Alarmierend ist etwa ein Bereich, den das Deutsche Schulbarometer in den Blick nimmt: 43 Prozent der Lehrkräfte gibt an, es fehle an ausreichenden Unterstützungsangeboten durch Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Sozialarbeitern und ‑arbeiterinnen. Und: Kinder müssten oft bis zu fünf Monate auf einen Therapieplatz warten. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf“, appellieren die Studienautorinnen und Autoren.

Es fehle aber auch ein grundlegendes Konzept, das Antworten auf das sich verschlechternde Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen geben könne, kritisiert Studienleiterin Ravens-Sieberer. „Wir haben in Deutschland relativ viel Projektitis.“ Es gebe zwar einzelne Schulen und Regionen, die in Modellen erprobten, wie man beispielsweise in Rollenspielen Resilienz und Selbstwirksamkeit trainieren kann, Familien mit ins Boot holt. Auch, wie man sich als junger Mensch selbst Hilfe holen kann, wenn es einem schlecht geht. Aber eine deutschlandweite Strategie? Fehlanzeige.

Alarmiert zeigt sich da auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Auch sie fordert eine deutschlandweite Schutzstrategie für junge Menschen. „Staat und Gesellschaft stehen in der Verantwortung, auf die zunehmende Gefährdung des Wohlergehens und der Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen schnell und angemessen zu reagieren“, betonte der Zusammenschluss bedeutender Forschungseinrichtungen in einer Stellungnahme im September 2024. Negative Folgen gebe es dadurch nicht nur für Einzelne, sondern für die gesamte Gesellschaft und auch Wirtschaft: etwa durch „erhebliche Kosten durch psychische Erkrankungen und die unzureichende Ausschöpfung der Bildungspotenziale.“

Um junge Menschen resilienter zu machen und in ihren Kompetenzen der Selbstregulation zu stärken, brauche es Erziehungs- und Unterrichtsmodelle im Alltag, in der Ausbildung, auch in der Fortbildung der Bildungsfachkräfte. Es brauche Angebote im Rahmen des Unterrichts, an Projekttagen, mit Klassenlehrerinnen und -lehrern. Es brauche auch eine bessere Datengrundlage und Indikatoren, die das Wohlbefinden junger Menschen regelmäßig überhaupt erst einmal erheben. Vor allem aber brauche es eine „Leitperspektive des deutschen Bildungssystems“, einen Diskurs über denkbare Angebote: in Gremien, Elternbeiräten, Schulkonferenzen – aber etwa auch in Bildungs- und Lehrplänen der Bundesländer.

Der Bedarf nach Unterstützung dürfte schließlich eher zu- statt abnehmen. „Wir vermuten, dass die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen auf einem erhöhten Niveau bleiben wird“, prognostiziert Studienautorin Kaman. Die globalen Krisen und daraus folgende Unsicherheit, das seien Themen, die junge Menschen längerfristig beschäftigen werden.