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Sechs Monate CoronaWie Heinsberg zum deutschen Epizentrum der Pandemie wurde

Lesezeit 8 Minuten
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Corona-Neuinfektionen in NRW: Die Entwicklung in den einzelnen Regionen, die auf der Karte nummeriert sind, finden Sie weiter unten im Text.

  1. Ein halbes Jahr nach dem ersten Corona-Fall in NRW wächst die Sorge vor einem neuen großen Ausbruch.
  2. Vor allem die Reiserückkehrer sorgen für steigende Infektionszahlen.
  3. Ein Rückblick auf sechs Monate Coronavirus und die Lehren, die gezogen wurden. Und ein Ausblick, auf das was noch kommen kann.

Köln – Am Morgen des Aschermittwoch wendet sich der Landrat des Kreises Heinsberg zum ersten Mal mit einer Videobotschaft aus dem Kreishaus an die Bürger. Zu diesem Zeitpunkt, es ist der 26. Februar, ahnt der CDU-Politiker Stephan Pusch nichts davon, dass seine Videobotschaften, die über die sozialen Netzwerke verbreitet werden, sich in den kommenden Wochen zur verlässlichsten Informationsquelle aufschwingen und maßgeblich dazu beitragen werden, dass die Menschen im Kreis Heinsberg in der Corona-Krise die Ruhe bewahren.

Pusch informiert die Bürger über die beiden ersten bestätigten NRW-Verdachtsfälle in der Gemeinde Gangelt und darüber, dass Kindergärten und Schulen zunächst geschlossen bleiben. „Die Situation erfordert von uns allen ein bisschen Disziplin, aber wir sollten auch nicht in Panik verfallen“, sagt Pusch und fordert die Bürger auf, bei Krankheitssymptomen zuhause zu bleiben und Kontakt mit dem Hausarzt aufzunehmen. Überdies bittet er, „Menschenansammlungen möglichst zu vermeiden, Ruhe zu bewahren und keine Falschnachrichten zu verbreiten“. Der Beitrag wird bis zu Nachmittag mehr als 100.000 Mal aufgerufen und verfehlt seine Wirkung nicht.

Der Patient Null für die Pandemie in NRW wird nie gefunden

Zu diesem Zeitpunkt ist das erkrankte Ehepaar bereits in die Uniklinik nach Düsseldorf verlegt worden. Vor allem den Mann (47) hat es schwer erwischt. Er wird über Wochen in Lebensgefahr schweben. Wo er sich infiziert hat, wird nie ermittelt. Der Krisenstab des Landkreises hat in enger Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium in Düsseldorf und dem Robert Koch-Institut (RKI) in der Nacht zum Aschermittwoch ganze Arbeit geleistet. Nur 20 Stunden nach Bekanntwerden des Verdachtsfalls sind die wichtigsten Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionsketten eingeleitet.An der Uniklinik Köln, die der Mann am 13. und 19. Februar wegen einer Vorerkrankung aufgesucht hat, sind sämtliche Mitarbeiter und Patienten, die mit ihm in Kontakt standen, identifiziert und unter häusliche Quarantäne gestellt worden. Gleiches gilt für das Krankenhaus in Erkelenz, wo der 47-Jährige behandelt worden war und für zwei Arztpraxen, die das Paar vorab zur Behandlung aufgesucht hatte.

Alles zum Thema Armin Laschet

Dennoch fürchtet NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) in Düsseldorf schon, dass eine möglichst lückenlose Unterbrechung der Infektionsketten schwierig sein wird. Der Grund: Das erkrankte Ehepaar hat am Wochenende zuvor im Karneval an der Kappensitzung in der Ortschaft Langbroich teilgenommen. Laumann versucht zu beruhigen. Es handele sich um eine „überschaubare Sitzung in einer überschaubaren Gemeinde“, sagt er. 16 Tage später, am Freitag, 13. März, ist klar: Das war ein Irrtum. Der Kreis Heinsberg gilt als das Epizentrum der Pandemie in Deutschland. Zwischenzeitlich werden Stimmen laut, den Kreis komplett abzuriegeln. Notfalls mit Hilfe der Bundeswehr.

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Entwicklung der Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen je 100.000 Einwohner (Stand 24. August)

Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagt in der Düsseldorfer Staatskanzlei, das Land stünde vor einer „riesigen Bewährungsprobe, wahrscheinlich der größten in der Landesgeschichte: „Wir haben es mit einem unsichtbaren Gegner zu tun, dessen Bekämpfung unser Land an den Rand unserer Kräfte führen wird.“ Das Land schließt alle Schulen und Kitas – geplant ist das zunächst bis zum Ende der Osterferien am 19. April. Alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Menschen werden abgesagt, die Fußballspiele in den drei Profi-Ligen ebenfalls. Zwei Tage zuvor hat der 1. FC Köln das erste Geisterspiel in der Geschichte der Bundesliga bei Borussia Mönchengladbach 1:2 verloren. Drei Wochen zuvor, vor dem Spiel der Gladbacher gegen Borussia Dortmund, hatte der Gesundheitsminister noch an die Gladbach-Fans im Kreis Heinsberg appelliert, freiwillig auf den Stadionbesuch zu verzichten.

Die Krisenpolitik der Landesregierung verfolgt vor allem ein Ziel: Genügend Beatmungsplätze in den Kliniken zu schaffen, um dort schwer erkrankten Menschen helfen zu können. Das gelingt vortrefflich – die Kapazitäten werden nicht ansatzweise benötigt. Mehr noch: Sogar schwer erkrankte Menschen aus Italien und Frankreich können in Kliniken nach NRW vermittelt werden.

Laschet spricht von größter Bewährungsprobe der Geschichte

Fünf Tage nach seinem dramatischen Appell muss der Ministerpräsident noch einmal nachlegen, weil sich die Zahl der Infektionen im Land innerhalb von vier Tagen verdoppelt hat. „Bleiben Sie zu Hause und helfen Sie mit, das Virus einzudämmen.“ NRW schrammt haarscharf an einer Ausgangssperre vorbei. Die Menschen hamstern Vorräte, vor allem Grundnahrungsmittel und Toilettenpapier werden knapp, die Zahl der bestätigten Corona-Fälle klettert am Wochenende auf mehr als 2000.

Der Kreis Heinsberg ist mit 690 Infizierten am stärksten betroffen. Landrat Stephan Pusch ist längst zum Corona-Helden avanciert. Der 52-Jährige schreckt nicht davor zurück, am 19. März die Hilfe der Bundeswehr einzufordern und droht mit der Schließung eines Krankenhauses, weil Schutzkleidung und Masken fehlen. Über den chinesischen Generalkonsul und den Botschafter wendet er sich persönlich an die chinesische Regierung und bittet um die Lieferung von Schutzmasken. Mit Erfolg. Weitere vier Tage später, am Montag, 23. März, tritt in NRW ein Kontaktverbot für mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit in Kraft. Die Landesregierung bringt am gleichen Tag einen historischen Rettungsschirm über 25 Milliarden Euro auf den Weg.

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Entwicklung der Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen je 100.000 Einwohner (Stand 24. August)

Nur fünf Tage später, die erste Welle der Corona-Krise hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, gibt es in der Staatskanzlei in Düsseldorf erste zaghafte Versuche, über mögliche Lockerungen nachzudenken. Die aktuellen Beschränkungen seien nicht länger als ein halbes Jahr durchzuhalten, sagt Ministerpräsident Laschet. Man brauche einen gesellschaftlichen Konsens darüber, „wie wir wieder ins Leben zurückkommen.“

Helfen soll dabei ein Forschungsprojekt im Kreis Heinsberg. Es soll wissenschaftliche Erkenntnisse zu der Frage liefern, wie der Ausnahmezustand wegen der Corona-Krise wieder beendet werden kann. Ein Virologenteam der Universität Bonn um Professor Hendrik Streeck soll die Infektionsverläufe im Kreis Heinsberg erforschen, der als Epizentrum der Erkrankungen in Deutschland gilt, und daraus Präventionsempfehlungen entwickeln. In der Modellregion könne man „wissenschaftlich fundiert herausfinden, welche Maßnahmen sinnvoll sind, um die Bürger optimal zu schützen“, sagt Laschet.

Heftige Diskussionen löst auch die Ankündigung von Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) aus, auf die Abiturprüfungen nicht zu verzichten, sondern sie um drei Wochen auf Mitte Mai zu verschieben. Andere Länder wie Berlin und Schleswig-Holstein wollen andere Wege gehen, doch NRW bleibt hart und setzt sich damit durch. Am Ende steht eine bundeseinheitliche Lösung – es bleibt bei den Prüfungen.

Der Corona-Kurs der Landesregierung – auf Sicht fahren und bei Bedarf schnell nachjustieren – scheint sich für Laschet zunächst nicht auszuzahlen. Sein bayerisches Pendant Markus Söder (CSU) prescht mit immer neuen scheinbar rigorosen Corona-Regeln vor. Im Rennen um eine mögliche Kanzlerkandidatur ist der Chef der NRW-Regierung abgeschlagen.

Die erste Nachricht von kleinen Erfolgen bei der Bekämpfung der Pandemie kann Gesundheitsminister Laumann am 8. April vermelden. Die Kontaktverbote scheinen zu wirken. Die für die Berechnung der Dynamik ausschlaggebende Verdopplungszahl verlangsamt sich und liegt mittlerweile bei zwölf Tagen. Es wird noch einen Monat dauern, bis der Bund nach Beratungen der Länderchefs mit Kanzlerin Angela Merkel am 6. Mai die schrittweise Rückkehr in den Alltag und ein Ende des Lockdown verkündet. Der wird ab 11. Mai nicht mehr für ganz Deutschland, sondern nur für Regionen mit hohen Infektionszahlen gelten.

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Entwicklung der Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen je 100.000 Einwohner (Stand 24. August)

Die Beschlüsse, die je nach Bundesland und Region getroffen werden, mögen manche einen Flickenteppich nennen, sagt Ministerpräsident Laschet in der Staatskanzlei. Für ihn sei das „ein präzises Bekämpfen der Pandemie“, das den Regionen angemessen sei. NRW befinde sich in einer besonderen Gemengelage. Das Infektionsgeschehen bleibe der Maßstab. Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass wir hier „ländliche Regionen haben, große Städte und im Ruhrgebiet eine Region, in der eine Stadt in die andere übergeht.“ Dem müsse man bei der Pandemiebekämpfung Rechnung tragen. Diese Strategie hat sich beim Ausbruch der Pandemie in der Tönnies-Schlachtfabrik in Rheda ausgezahlt, als es zu lokalen Lockdowns in den Kreisen Gütersloh und Warendorf kam.

Und heute? Nach dem Ende der Ferien steigen die Zahlen wieder, doch noch ist NRW weit von der kritischen Marke der 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen entfernt. Die Inzidenz liegt am Dienstag bei 11,2 – aktuell sind damit in Nordrhein-Westfalen 5100 Menschen infiziert. Besonders hohe Inzidenz-Quoten haben Duisburg (23,5) und Düsseldorf. Köln und auch Heinsberg stehen besser da. Vor allem im Vergleich zum 17. März, als in Heinsberg der Höchstwert mit 157,3 erreicht war.

Söder fordert bundesweite Regeln bei Maskenpflicht und Bußgeldern

Wie geht es weiter? Vor den Beratungen der Länderchefs mit Kanzlerin Merkel am Donnerstag warnt der bayrische Ministerpräsident Markus Söder vor weiteren Lockerungen. „Wir stehen an einer ganz wichtigen Weggabelung. Corona ist wieder voll da.“ Wie im Frühjahr stehe Deutschland kurz vor einer exponentiellen Entwicklung bei den Fallzahlen. Nötig seien deshalb bundesweit einheitliche Regeln – bei Maskenpflicht, Bußgeldern sowie der erlaubten Teilnehmerzahl von Veranstaltungen, so der CSU-Politiker. Damit dürfte er bei Laschet auf wenig Gegenliebe stoßen. Der sieht sich nach den Pannen bei den Tests in Bayern und dem Lob der Kanzlerin bei deren Besuch in NRW vor einer Woche wieder im Aufwind und zurück im Rennen um die Kanzlerkandidatur.

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Auch der Marburger Virologe Stephan Becker hält einen neuen allgemeinen Lockdown für vermeidbar. Im Frühjahr sei das wichtig gewesen. „Er hat uns gezeigt, wie man mit so einem Virus umgehen kann und dass es möglich ist, es einzudämmen. Wir haben aber auch gelernt, dass wir das so nicht noch einmal wollen“, sagt er mit Blick auf die sozialen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Folgen. „Dadurch, dass wir das Virus kennengelernt und verstanden haben, was die riskanten Situationen sind, können wir einen flächendeckenden Lockdown vermeiden.“ (mit dpa)