Homeoffice, Kitaschließungen, Homeschooling, Existenzängste und Überlastung – Die Krise hat uns urlaubsreif gerockt. Und dennoch: Ist die Zeit für eine Reise ins europäische Ausland schon gekommen?
Absolut nicht, sagt Claudia Lehnen. Rufen wir alle dann wieder Heiko Maas an, wenn der zweite Lockdown droht und lassen uns zurückholen?
Auf jeden Fall, sagt Sarah Brasack. Denn wir sind urlaubsreif – und verantwortungsbewusst.
Unser Streit der Woche.
Gehören Sie auch zu den Eltern im Homeoffice mit Kindern zu Hause, die sich immer häufiger am Rande des Nervenzusammenbruchs fühlen? Oder arbeiten Sie in der Pflege und haben in den vergangenen Monaten noch mehr geschuftet als sonst? Die Corona-Krise belastet uns alle seit Monaten enorm, vor allem psychisch. Existenz-Ängste, Einsamkeit, Kurzarbeit oder Mehrarbeit: Jeder ist anders betroffen, aber jeder ist betroffen.
Steigender Leistungsdruck und drohende Burnouts waren schon vor der Coronakrise ein wachsendes gesellschaftliches Problem, das sich nun akut verschärft hat. Selten war Sommer-Urlaub also notwendiger als in diesem seltsamen Jahr. Und den sollte jeder ohne schlechtes Gewissen auch im Ausland machen dürfen.
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Das gilt nicht nur für die vielen, die ihren Trip ins Ferienhaus an der französischen Atlantik-Küste schon lange im Voraus gebucht haben und die Reise jetzt nur mit hohen Kosten wieder stornieren könnten. Sondern auch für die, die noch überlegen, wann und wo sie ihren aufgeschobenen Urlaub nehmen sollen. Klar gibt es auch in Deutschland Sommerunterkünfte, aber die sind in weiten Teilen mittlerweile ausgebucht. Zudem haben sich viele Politiker europäischer Länder – anders als in anderen Teilen der Welt – im Pandemie-Management höchst verantwortungsbewusst gezeigt.
Man kann also darauf vertrauen, dass Reisewarnungen keinesfalls leichtsinnig aufgehoben werden – und auch im Ausland strenge Hygiene- und Sicherheitsregeln gelten.Insbesondere die Länder, die am härtesten von der Krise getroffen worden sind, wären ja verrückt, wenn sie Touristen nicht besonders drastische Regeln auferlegen und bei Verstößen hart durchgreifen würden. Niemand dort will, dass sich der dramatische monatelange Shutdown wiederholt. Andere Länder wie Portugal waren vom Corona-Virus kaum betroffen, leiden jetzt aber stark unter den Folgen.Portugal ist nicht damit geholfen, wenn wir diesen Sommer alle zu Hause bleiben – ebenso wie Griechenland, Spanien, Italien und anderen Ländern, die in hohem Maße vom Tourismus abhängig sind. Denn ihre in Teilen beängstigende wirtschaftliche Not werden wir als EU-Gemeinschaft in voller Härte zu spüren bekommen und mittragen müssen. Urlaub im Ausland zu machen, bedeutet also auch Solidarität mit den Nachbarn zeigen. Selbstverständlich muss diese Solidarität beinhalten, dass wir uns nicht nur zu Hause, sondern ganz besonders als Gäste an die Regeln halten. Und Risiken miniminieren: Dicht an dicht mit dem Nebenmann im Flugzeug sitzen, dagegen gibt es berechtigte Bedenken. Züge, Schiffe und Autos bieten da sicherere Alternativen. Im Urlaubsland selbst ist das Infektionsrisiko nicht höher als zu Hause: Im Sommer spielt sich – zumal im Süden – ja fast alles unter freiem Himmel ab.
Trips mit dem Billigflieger
Verantwortungslos Urlaub machen, das ging übrigens schon vor der Krise. Mit ständigen Wochenend-Trips per Billigflieger an Orte, in denen für Touristen Raubbau an der Natur betrieben wurde. Rücksichtsvolles Verhalten fängt immer bei uns selbst an. Wer im Urlaub – und auf dem Weg dorthin – umsichtig und vernünftig ist, kann sich überall da erholen, wo es keine Reisewarnung mehr gibt. Hoffentlich möglichst gut.
Sarah Brasack
Lassen Sie es!
Eines vorneweg: Ich bin urlaubsreif. Eigentlich bin ich sogar mehr als das. Verfrühter Rentenbeginn in einer Hängematte am Strand einer Insel des Südwestpazifiks wäre gerade gefühlt das einzig richtige, um mich vor dem Burnout zu retten. Oder halt zwanzig Jahre Schweigekloster in einem Ashram im Himalaya. Diese Corona-Krise ist anstrengend. Und natürlich wollen wir alle einfach nur weg. Frei sein. Ruhe haben. Zehen in den Sand bohren, dabei stündlich ne Kokosnuss leer trinken. Und das Ganze bitte wochenlang.
Trotzdem: Lassen Sie es! Widerstehen Sie der Versuchung, sich in den Flieger zu setzen und nach Griechenland zu düsen. Schon deshalb, weil die Sonderregelungen, die für Flugzeuge gelten, einfach unerträglich ungerecht sind. Haben Sie schon von einem Theater gehört, das sich weigert, die 1,5-Meter-Regel bei der Bestuhlung einzuhalten und stur und ganz selbstverständlich weiter alle Plätze voll macht, wenn denn genug Leute kommen? Weil es sich eben sonst nicht rechnet?Und dann stellen Sie sich vor, Sie sitzen so, wie es sich für die Airlines rechnet, nämlich ölsardinenmäßig, im Flieger und Ihr Nebenmann niest. Dann können Sie nicht einmal den Raum verlassen oder wenigstens das Fenster öffnen. Zwar versichern Fluggesellschaften, dass die Luft im Flieger durch Filter so sauber wäre wie in einem OP-Saal. Aber so ganz sicher weiß das niemand.
Selbst wenn Sie klug genug sind und das Flugzeug meiden – je weiter Sie eine Reise von zu Hause weg führt, umso mehr Kontakte haben Sie auf dem Weg an den Urlaubsort. Sie lassen Ihre Viren im schlimmsten Fall an allen Rastplätzen, im Zugabteil, an Tankstellen, an Orten der Zwischenübernachtung, denn so ein Weg mit dem Auto nach Griechenland oder Spanien kann sich ja ganz schön in die Länge ziehen. Und wenn die Fallzahlen sich wieder erhöhen und ein zweiter Lockdown droht und Sie weilen gerade auf Mykonos, was dann? Rufen Sie dann wieder Heiko Maas an, damit der Sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen nach Hause eskortiert? Mit Verlaub: Wäre meine Mutter Heiko Maas, würde sie sagen: Du bleibst schön zu Hause. Wir haben ja keinen Geldscheißer.
Belasten Sie nicht das Gesundheitssystem anderer Länder
Oder bleiben Sie dann wo Sie sind und sehen in aller Seelenruhe zu, wie die im Vergleich zu Deutschland vielleicht etwas weniger gut ausgestatteten Intensivbettenkapazitäten auf der Insel langsam ausgebucht sind? Und wenn Sie selbst krank werden: Belasten Sie das Gesundheitssystem anderer Länder, die vielleicht schon genug Sorgen mit ihren eigenen Landsleuten haben und Sie nun wirklich nicht auch noch brauchen können.
Also: Nutzen Sie die Krise und gehen in sich. Fragen Sie sich, ob diese ganze „Heute Algarve, morgen New York, übermorgen Sizilien“-Nummer in Wahrheit nichts weiter ist, als eine Flucht vor uns selbst. Vielleicht entdecken Sie einfach mal Deutschland oder sogar Nordrhein-Westfalen. Mieten Sie sich ein einsames Ferienhäuschen. Wandern Sie einfach mal drei Tage Richtung Osten und gucken Sie, wo Sie am Ende landen. Schlafen Sie auf dem Balkon. Radeln Sie einen deutschen Fluss von der Quelle bis zur Mündung ab. Machen Sie was Abenteuerliches. Genießen Sie menschliche Nähe – mit guten Gesprächen und überraschenden Ideen – dann ist es egal, an welchem Ort sie sind.