Attendorn – Der apricotfarbene Blazer ist schuld daran, dass Ursula Wanecki aus Attendorn jetzt Angela Merkel ist. Auf den Wahlplakaten für die Bundestagswahl 2009 trägt Angela Merkel einen apricotfarbenen Blazer, der dem sehr ähnlich sieht, den Wanecki sich für die Hochzeit ihrer Tochter gekauft hatte. Der zweijährige Sohn eben dieser Tochter sitzt hinten im Auto und ruft immer wieder: „Oma! Oma!“. Wanecki und ihre Tochter verstehen lange nicht, warum er das ruft. Bis sie es auch sehen: Angela Merkel sieht aus wie Ursula Wanecki. Oder eben umgekehrt.
Noch denkt sich Wanecki nicht viel dabei. An Karneval will sie diesmal nicht als Piratenbraut gehen und sucht ein neues Kostüm. Warum nicht Angela Merkel? Sie kauft eine schwarze Stoffhose, schwarze Schuhe, einen grünen Blazer und legt ihre große Bernsteinkette um. Nun noch ein Schild mit der Aufschrift „Bundeskanzlerin“ anheften und los. Als erstes sehen sie die Verkäuferinnen in der Bäckerei. „Die waren baff und haben kurz gedacht, die echte Merkel steht bei ihnen im Laden“, erinnert sich Wanecki. Auch im Büro kommt sie gut an und beschließt: „Da mache ich was draus.“ Noch in Karnevalsstimmung meldet sie sich bei der Doppelgängeragentur „Doubles and More“ in Alfter an und vergisst das bald wieder.
Erster Dreh direkt mit Stefan Raab
Im Mai kommt dann der Anruf: Ob Sie anlässlich einer Reise der echten Angela Merkel als Double auftreten könne? Sie sagt Ja und hat gleich ihren ersten Dreh mit Stefan Raab in Köln. „Ich hatte ja gar keine Erfahrung und musste mich irgendwie vor der Kamera behaupten. Zum Glück sehe ich nicht nur so aus wie Angela Merkel, sondern unsere Mimik und Gestik sind auch sehr ähnlich. Das kann man nicht üben, das kommt aus dem Inneren, dass wir uns so ähnlich sind“, glaubt Wanecki.“
Vor allem von der Seite und von hinten sehen die beiden Frauen wirklich ziemlich gleich aus. Nur die Stimme unterscheidet sie sehr. Und die Kleidervorlieben: Wanecki mag privat feminine Kleider und Röcke und muss sich für die Merkel-Rolle extra mehrere bunte Blazer kaufen.
Viel mehr gibt es auch nicht zu tun, um zu Angela Merkel zu werden: „Ich nehme einen Blazer aus dem Schrank, schminke mich, föhne ein bisschen die Haare – die Frisur hatte ich übrigens zurerst! Dann gehe ich aus dem Haus und bin Angela Merkel.“
Lustiges Treffen mit Greta, Putin und Trump
In mehr als zehn Jahren als Double hat sie unzählige Auftritte in Fernsehshows, auf Geburtstagen und Messen sowie zahlreiche Fotoshootings für Magazine hinter sich. In Attendorn wird sie meist als Angie angesprochen, hat mit jedem ein Selfie gemacht, war in allen Vereinen zu Gast und saß auch schon mal im Rewe an der Kasse. Zu ihren schönsten Jobs gehört ein Werbedreh in Wien mit den Doubles von Donald Trump, Greta Thunberg und Wladimir Putin. „Wir haben so viel gelacht! Putin hat die ganze Zeit Witze erzählt. Abends saßen wir zusammen im Restaurant, da haben die Leute ganz schön geschaut. Sowas wäre ja in der Realität undenkbar. Nur Trump war nicht dabei, der war irgendwie Einzelgänger“, erinnert sie sich. Trump, Putin, Greta: Die Doppelgänger sprechen sich bei ihren Jobs immer mit den Namen ihrer Rolle an.
„Manchmal fühle ich mich selbst wie ein Star“
Im Moment ist Wanecki besonders gefragt, weil die Menschen kurz vor Ende der Ära Merkel möglichst viel von der Kanzlerin sehen wollen. „Die Leute begrüßen mich immer sehr freundlich, vor allem die Jugendlichen. In Berlin bin ich einmal für einen Dreh an der Spree neben dem Bundeskanzleramt auf und ab gegangen und die Menschen auf den Ausflugsbooten haben mir zugejubelt. Die dachten, da geht die echte Angela Merkel spazieren“, erzählt sie. Sie liebt die Drehs in Berlin, weil sie dort immer auch Bodyguards und eine schwarze Limousine gestellt bekommt. „In Berlin zweifelt keiner daran, dass da die echte Kanzlerin unterwegs ist. Da fühle ich mich dann manchmal selbst wie ein Star“, sagt sie.
Wenn aber die Stimmung gegen die echte Bundeskanzlerin kippt, bekommt das auch Ursula Wanecki zu spüren, vor allem seit der Flüchtlingskrise 2015 und eben auch ganz besonders in Berlin. Manchmal macht ihr das Angst. Sie weiß immer genau, wo die echte Merkel gerade ist, damit sie sich auf mögliche Demonstrationen einstellen kann, „man weiß nie, ob da nicht einer ein Messer hat“. Am Bahnhof steht sie nie zu nah an den Gleisen und dreht sich auf der Rolltreppe immer um, weil sie Angst hat, dass sie jemand schubst: „Die Leute können nicht immer erkennen, dass ich nur ein Double bin.“ Sogar zuhause in Attendorn dreht sie sich mehrmals um, bevor sie die Straße überquert. Man weiß ja nie.
Bisher haben sich die echte Angela Merkel und Ursula Wanecki nur einmal bis auf ein paar Meter angenähert, das war bei einer Wahlkampfveranstaltung in Olpe. Wanecki wollte das große Vorbild unbedingt einmal live sehen. Als Merkel die Bühne betritt, zieht sich Wanecki schnell ein Tuch über den Kopf, weil sie nicht will, dass jemand ruft: „Schauen Sie mal, Frau Merkel, hier im Publikum ist noch eine Angela Merkel!“ „Das wäre mir unendlich peinlich gewesen. Ich wollte ihr ja nicht die Show stehlen“, sagt Wanecki.
Angela Merkel hat für sie ein Buch signiert
In Kontakt getreten ist sie trotzdem schon einmal mit der Bundeskanzlerin. Sie gibt einem Politiker, der öfter mit Merkel zu tun hat, ihr Lieblingsfotobuch „Angela Merkel. Aufnahmen von 1990 bis 2019“ von Daniel Biskup mit. Sie hofft, dass Merkel es signieren wird und das Buch kommt tatsächlich mit der Kanzlerinnen-Unterschrift zurück. Wanecki sieht das als eine Art Anerkennung, dass die echte Bundeskanzlerin mit ihrer Darstellung zufrieden ist.
Wanecki schätzt Merkels Arbeit sehr, deshalb ist es ihr wichtig, die Kanzlerin würdig und respektvoll darzustellen. Wegen des großen Respekts hat sie schon manchen Auftritt abgesagt, bei dem Merkel lächerlich gemacht werden sollte. Schwierig war für sie auch die Anfrage für eine Fotostrecke im Magazin „Straight“, das sich vor allem an Lesben wendet. „Da habe ich wirklich lange überlegt, ob ich das mit meiner katholischen Erziehung vereinbaren kann und schließlich doch zugesagt“, erzählt sie. Durch die Merkel-Rolle habe sie sich gesellschaftlich und politisch weiter entwickelt. Für ihre Auftritte, egal ob Reiterverein oder Ärztekongress, bereitet sie sich immer so vor, dass sie jederzeit ins Gespräch einsteigen kann. Sie kann es nicht ausstehen, von einem Thema keine Ahnung zu haben. „Ich bin zwar nur ein Double, aber ich will nicht nur winken.“
Aus Polen ausgewandert und hier Steuerfachangestellte geworden
Dieser Wille zum Wissen und der Biss, sich auch in schwierige Themen einzuarbeiten, haben ihr schon oft im Leben geholfen. Wanecki wurde in St. Annaberg in Polen geboren und kam 1985 als Spätaussiedlerin nach Deutschland. „Obwohl ich deutsche Vorfahren habe, wollte ich eigentlich gar nicht weg, weil ich Angst hatte, dass ich in Deutschland nicht in meinem Beruf als Lehrerin arbeiten kann“, sagt sie. Doch als ihr Mann 1980 von einem Besuch bei seiner Tante in Attendorn nicht mehr zurückkehrt, stellt sie schließlich doch einen Ausreiseantrag für sich und die kleine Tochter. Als Folge wird sie von ihrem Posten als Lehrerin auf eine Stelle in einer Bibliothek zurückgestuft. Fünf Jahre vergehen, bis der Ausreiseantrag bewilligt wird. Wanecki und ihre sechsjährige Tochter landen zunächst im Grenzdurchgangslager Friedland und anschließend in Attendorn. „Das erste, was man uns sagte, war: Ihr müsst Deutsch lernen! Ihr dürft hier kein Polnisch sprechen! Das fand ich ziemlich schlimm“, erinnert sich Wanecki. Sie stürzt sich mit großem Eifer in den Deutschkurs, besteht als eine der wenigen Schülerinnen und beginnt eine zweite Ausbildung als Steuerfachangestellte.
Steuerfachangestellte in einem fremden Land. Für diese Entscheidung muss man Biss und Willen haben. „Das war hart. Ich musste immer nur lernen, es gab nie Urlaube oder Partys“, sagt sie. Sie will unbedingt einen vernünftigen Job und auf eigenen Füßen stehen: „In Polen war ich Lehrerin, meine Eltern haben mir diese Ausbildung ermöglicht. Da laufe ich doch in Deutschland nicht mit Eimer und Lappen durch die Gegend. Außerdem ist es mir wichtig, als Frau ein eigenes Gehalt und einen Job mit Prestige zu haben.“
Im Moment wechselt sie zwischen den beiden Jobs. Morgens ist sie die Steuerfachangestellte Wanecki, abends oder am Wochenende ist sie Angela Merkel. Manchmal gehen beide Leben durcheinander. Bei unserem Besuch klingelt es an der Tür. Wanecki, ganz Angela Merkel im roten Blazer, steht auf und öffnet. Es ist ein Mandant, der ihr Unterlagen bringt. Sie nimmt den Umschlag entgegen und verabschiedet sich. Kein Wort darüber, dass sie gerade wie die Bundeskanzlerin im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses aussieht.
„Jeder verdient eine Chance. Auch Armin Laschet“
Kurz vor der Bundestagswahl wird Wanecki 65 Jahre alt. Wie Angela Merkel will auch sie bald in Rente gehen. Dass sie nach all dem Trubel in ein Loch fallen wird, hält sie für ausgeschlossen. Erstmal steht ein Urlaub mit wandern, meditieren und viel Ruhe an, dann ist eine Schiffstour durch das Baltikum geplant, auch ihre Heimatstadt St. Annaberg in Polen will sie öfter besuchen. „Ich freue mich, wenn endlich ein bisschen Ruhe einkehrt. Wenn ich aufstehen kann, ohne einen Termin zu haben und ganz ohne Stress frühstücken kann“, sagt sie. Dass Angela Merkel ebenfalls in Rente ist, kann sich Wanecki nicht wirklich vorstellen: „Frau Merkel wird sich sicher eine Aufgabe suchen, es wäre schade für unser Land, weil sie so krisenerprobt ist. Sonst sehe ich schwarz für die nächste Regierung.“ Obwohl sie selbst Mitglied in der Frauenunion ist und in Attendorn für den Seniorenrat kandidiert, fällt es ihr schwer, sich einen der drei Kandidaten als neuen Bundeskanzler oder als neue Bundeskanzlerin vorzustellen. Sie sagt aber auch: „Frau Merkel hat man das am Anfang auch nicht zugetraut. Jeder verdient eine Chance. Auch Armin Laschet.“
Am 26. September, dem Tag der Bundestagswahl, wird Ursula Wanecki vor dem Fernseher sitzen und genau verfolgen, welche Partei sich durchsetzt. Den Montag danach hat sie sich frei genommen, um keine Entwicklung zu verpassen. Schon jetzt ist sie wehmütig: „Ich werde Angela Merkel vermissen. Es ist eine große Wertschätzung für mich, das Double der mächtigsten Frau Deutschlands sein zu dürfen“, sagt Wanecki. Wenn einige Wochen nach der Wahl Ruhe eingekehrt ist, hofft sie, dass sich ihr großer Traum vielleicht endlich erfüllt: ein persönliches Treffen mit der dann Kanzlerin a.D. Die Frauenunion arbeitet bereits daran. Wanecki hat sich schon genau ausgemalt, wie das ablaufen soll: „In Berlin gibt es ein italienisches Restaurant, in das wir beide gerne gehen. Wir könnten dort gemeinsam beim Rotwein sitzen und uns kennenlernen. Ich stelle mir das einfach vor. Wir sagen ‚Hallo‘ und fangen einfach an zu reden.“
Die einzige Chance, sich die Raute wieder abzugewöhnen
Und es gibt noch eine Sache, auf die Wanecki sich richtig freut, wenn sie nicht mehr als Angela Merkels Double gebucht wird: Sie will sich endlich die Fingernägel wachsen lassen und bunt lackieren. „Unsere Bundeskanzlerin hat sehr kurze und unlackierte Nägel. Deshalb muss das bei mir auch so sein. Da ich ständig die Raute mache, schauen die Menschen viel auf meine Hände. Wenn das vorbei ist, werde ich mich endlich wieder um meine Nägel kümmern“, sagt sie. Lange, bunte Nägel findet sie nicht nur schön, sondern auch praktisch: „Sie sind die einzige Möglichkeit für mich, mir die Raute wieder abzugewöhnen.“
Buchtipp von Ursula Wanecki: David Safier: Miss Merkel: Mord in der Uckermarck, Kindler Verlag, 16 Euro.Darum geht es: Was macht Angela Merkel, wenn sie in Rente geht? Sie löst Kriminalfälle in der Uckermark.