Düsseldorf – Fast 40 Jahre lang hat niemand den verschlossenen Karton mit Beweisstücken in der Asservatenstelle geöffnet – bis kürzlich Dustin Wisnewski von der Polizei Essen den Auftrag erhält, den ungelösten Mordfall noch einmal auf neue Ermittlungsansätze zu prüfen. Um welchen Fall es konkret geht, will das Landeskriminalamt (LKA) nicht verraten, weil das Verfahren noch läuft.
In den Karton zu schauen sei wie eine Zeitreise gewesen, erzählt Wisnewski, der 35 Jahre alte Oberkommissar war zum Zeitpunkt des Verbrechens noch gar nicht geboren. „Das ist schon spannend. Du findest da 40 Jahre alte Zigarettenstummel in dieser Kiste, oder alte Zeitungen.“ Aber eben auch: Folien, mit denen die Mordkommission seinerzeit die Leiche abgeklebt hat, um mögliche Faserspuren von der Bekleidung des Täters zu sichern.
Auch nach 40 Jahren kann noch DNA analysiert werden
An DNA-Material hat damals noch niemand gedacht. Aber genau dieses Genmaterial heute noch auf den alten Folien zu finden, ist die große Hoffnung der Cold-Case-Ermittler in NRW, um ungelöste Verbrechen auch nach mehreren Jahrzehnten noch aufklären zu können. Je nachdem wie die Asservate aufbewahrt wurden, seien die Folien – und auf ihnen möglicherweise Blut oder Hautschuppen des Täters – auch heute noch in derart guter Verfassung, dass oft mit Hilfe moderner Labortechniken eine DNA-Spur extrahiert werden kann, sagt Wisnewski.
Ist diese DNA zum Beispiel mitsamt dem Namen des wegen anderer Delikte vorbestraften Täters in einer Polizeidatenbank gespeichert, kann der Fall womöglich doch noch gelöst und für die Hinterbliebenen der Opfer ein „Riesenwerk“ getan werden, sagt Innenminister Herbert Reul (CDU). Es gebe das Sprichwort von der „Leiche im Keller“, sagt Reul. „Wir wollen mithilfe erfahrener Ermittler im Keller das Licht einschalten.“
Neue Einheit konnte bislang noch keinen Cold Case lösen
Vor fünf Monaten wurde daher beim LKA in Düsseldorf die „Besondere Aufbauorganisation Cold Cases“ eingerichtet. 27 Ermittler und eine Ermittlerin wurden aus dem Ruhestand zurückgeholt und überprüfen seitdem ungelöste Tötungsdelikte aus den vergangenen 50 Jahren auf mögliche neue Ermittlungsansätze. Landesweit sind das 1143 Fälle.
804 kamen in die engere Auswahl, 323 sind bislang vollständig digitalisiert, 167 wurden neu überprüft – und in 115 Fällen davon hätten sich bereits neue Ansätze ergeben, berichtete Reul. Gelöst wurde noch kein Fall. Aber das soll sich bald ändern. „Wir stehen ja gerade erst am Anfang“, betont der Innenminister.
Einer der 28 „Rentnercops“ der Cold-Cases-Einheit beim LKA ist Berthold Kunkel, ehemals Chef des Kommissariats für Tötungsdelikte in Gelsenkirchen. Vor drei Jahren ging er in den Ruhestand. „Ich wollte nach meinem langen Berufsleben Zeit mit meiner Familie verbringen, das ist auch eigentlich ganz gut angelaufen“, erzählt der 65-Jährige und lacht. Dann habe seine Frau voriges Jahr in der Zeitung von der geplanten neuen Einheit gelesen und zu ihm gesagt: „Das ist doch was für dich.“
Lange nachdenken musste er nicht, Kunkel bewarb sich, wurde genommen – und nun liest er 30 Stunden pro Woche im Homeoffice alte Ermittlungsakten, begutachtet Asservate und überlegt neue Herangehensweisen an alte Fälle. Erkennt er einen Ansatz, bezieht er die örtlich zuständige Mordkommission der Polizei mit ein.
Meist sind es jüngere Ermittler wie Dustin Wisnewski, mit denen Kunkel dann zusammenarbeitet. „Junge und Alte hier zusammenzubringen ist unheimlich wertvoll“, sagt Kunkel. „Ich bringe meine Erfahrung mit ein und der Kollege neue Ermittlungsmethoden.“
Manche Akten und Beweismittel sind längst vernichtet
Zwölf Cold Cases habe er in den vergangenen fünf Monaten bereits bearbeitet, bei dreien oder vieren erkenne er neue Ansätze. Bekommt Kunkel einen Fall auf den Tisch, liest er die Akte mindestens ein Mal komplett von vorne bis hinten, sagt er, manchmal noch ein zweites Mal. In den Asservatenstellen der Staatsanwaltschaft ist der 65-Jährige Stammgast. Hin und wieder müssen die Cold-Case-Ermittler allerdings auch ernüchtert feststellen, dass es keinerlei Akten und Beweismittel mehr gibt.
Der Grund dafür ist nicht immer ganz klar, Mord verjährt nie, Akten und Asservate ungelöster Fälle dürfen nicht vernichtet werden. Doch hin und wieder zum Beispiel wurde ein Tötungsdelikt jahrelang als Totschlag gewertet und erst viel später als Mord eingestuft. Totschlag aber verjährt nach 20 Jahren. „Danach müssen dann auch die Akten und Asservate vernichtet werden“, erklärt der Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer. Für die Cold-Case-Ermittler ist es dann zu spät, die Aufklärung des Falls ist dann in den meisten Fällen nicht mehr möglich.