Kerpen – Der Lärm ist ohrenbetäubend. Eben noch döste der Kurort im Teutoburger Wald in der Mittagshitze. Jetzt vibriert die Luft über Bad Salzuflen. Der Jagdbomber wird so langsam, dass er fast zu stehen scheint, nur knapp über den Häusern. In einem wird die Gartentüre aufgerissen. Die Frau, die herausstürmt, schwenkt ein Küchentuch. Doch sie will den Stahlvogel nicht vertreiben. Oben, im Cockpit, kann Oberleutnant Bernd Kuebart seine Mutter durch den engen Helm gut sehen.
Er winkt ihr zu, genießt diese wenigen Sekunden, weiß, dass sie sehr stolz auf ihn ist. Er hat es geschafft, hat sich seinen Traum vom Fliegen erfüllt. Sie ruft etwas in das Tosen hinein, das wie Schimpfen sein soll, und lacht. Er dreht ab. Das ist 1959.Drei Jahre später, es ist wieder Sommer, steht Irene Kuebart am Sarg ihres Sohnes. Er ist aufgebahrt in Nörvenich bei Kerpen.
Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hält die Trauerrede. Es ist der 22. Juni 1962. Drei Tage zuvor, am 19. Juni, sind Bernd Kuebart und drei weitere junge Männer in ihren Düsenjets verunglückt. Sie übten eine Kunstflugformation, angeordnet gegen jede Vernunft. Ihr Tod steht für eine der größten Tragödien der deutschen Luftwaffe in Friedenszeiten. „Gott muss wissen, warum dies geschah“, sagt Strauß.
Gott. Das ist auch das letzte Wort, das über Funk von Captain John Speer zu hören ist. Der Amerikaner führt an diesem 19. Juni die Formation von vier Starfightern an. Die Generalprobe für eine Vorführung, die am 20. Juni Gäste aus Politik und Militär beeindrucken soll. Josef Kammhuber, Inspekteur der Luftwaffe, hat zu einem Doppelereignis eingeladen: Dem „4. Jahrestag der Aufstellung des Jagdbombergeschwaders 31 Boelcke und der gleichzeitig beendeten Umrüstung des Geschwaders auf das Flugzeug F 104“. Damit wird Nörvenich der erste deutsche Fliegerhorst sein, der eine komplette Starfighter-Staffel in Dienst nehmen wird. Doch das Fest wird zur Trauerfeier.
Heute, 50 Jahre nach dem Unglück, hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Geschichte des 19. Juni 1962 rekonstruiert – in Gesprächen mit Zeitzeugen und Angehörigen sowie anhand des lange unter Verschluss gehaltenen Untersuchungsberichts der Luftwaffe.
Eine besondere Gruppe von Männern
Auf dem Hallenvorfeld ist an jenem 19. Juni bereits die Tribüne für die anstehenden Feierlichkeiten aufgebaut. Es ist eine besondere Gruppe von Männern, die für die Kunstflug-Darbietung auserwählt worden ist. Im kalifornischen Palmdale wurden die Flieger 1960 als erste Piloten überhaupt auf dem Lockheed-Jet ausgebildet. Zudem haben sie die Fluglehrerlizenz erworben.
Es ist 15 Uhr, als die Piloten ihre Maschinen auf dem Rollfeld in Aufstellung bringen. Der 29-jährige Speer führt das Quartett an. Hinter ihm stehen die deutschenOberleutnante Kuebart (26), Heinz Frye (27) und Wolfgang von Stürmer (26) in ihren Positionen.
Am Abend zuvor lief im Fernsehen die Zusammenfassung der gerade beendeten Fußball-WM in Chile, Brasilien ist Weltmeister geworden, Deutschland war im Viertelfinale gegen Jugoslawien ausgeschieden. Die Nachrichten berichten, dass die Tschechoslowakische Republik einen Störsender in Betrieb genommen hat, um die Bürger des Ostblock-Staates vom Westfernsehen auszuschließen. Es ist Kalter Krieg.
Die 29 000 PS starken Triebwerke schieben die vier F-104 um kurz nach 15 Uhr in den Himmel. Über dem Tagebau zwischen Kerpen und Frechen gehen die vier Maschinen in die Diamant-Formation über: Speer, der Anführer, vorne, seitlich versetzt jeweils eine Maschine, dahinter fliegt Wolfgang von Stürmer als Schlussmann; von Flugzeug zu Flugzeug sind es nicht einmal fünf Meter Abstand.
Perfili soll die Solonummer fliegen
Die deutschen Flieger halten diese Formation zentimetergenau ein. Ihren Blick immer auf Speer geheftet, der die Figuren ansetzt, die Radien bestimmt und die Flughöhe. Jeder Pilot kontrolliert permanent mit der linken Hand die Leistung seines knapp 17 Meter langen Stahlgeschosses, um es an seinem Platz innerhalb der Formation zu halten.
Auf dem Rollfeld wartet zu diesem Zeitpunkt, gegen 15.10 Uhr, ein fünfter Jet auf das Startsignal – im Cockpit sitzt US-Major Thomas Perfili (35). Ihm ist die Solonummer zugedacht. Er ist der einzige, der dieses Training überleben wird. Perfili stirbt zwei Jahre später – bei einem Flugtag stürzt er mit seinem Starfighter ab.Die Idee, einen Kunstflugschwarm mit den Piloten der Nörvenicher Waffenschule WS 104 aufzustellen, entsteht im September 1961 während des Großflugtages zum fünfjährigen Bestehen der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck.
Vor der Kommission, die das Geschehen des 19. Juni später untersuchen wird, gibt Oberst Hans-Ulrich Flade, Kommandeur der Waffenschule, an: Kuebart, Frye und Speer hätten nach diesem Flugtag selbst darauf gedrängt, ein Kunstflugteam zu bilden. Flade laut Protokoll: „Wir haben das zurückgestellt, weil wir zu dieser Zeit glaubten, noch nicht in der Lage zu sein, das ausführen zu können. Ich muss hinzufügen, dass dies auch aus technischen und personellen Gründen damals noch nicht durchführbar erschien.“ Dennoch wird das Training ab Frühjahr 1962 intensiviert.
„Der schnelle Bernd“
Mit Speer und Perfili gehören noch zwei Amerikaner zur Kunstfluggruppe. Doch das Verteidigungsministerium hat andere Pläne. Flade: „Es war naheliegend, sich ein rein deutsches Team zu wünschen.“
Ein deutsches Team mit Bernd Kuebart als Galionsfigur. Der junge, hochgewachsene Mann mit dem offenen Blick fällt auf. Seine Ausstrahlung ist gewinnend, seltsam stark und sensibel zugleich. Er ist der Star unter den Starfighter-Piloten. Eine Zeitung nennt ihn „Das As unter den Fliegern Europas“. Die Illustrierte „Kristall“, ein Hochglanzmagazin der frühen 60er Jahre, widmet dem „Reiter auf dem Strahl“ sogar eine Titelgeschichte.
1961, vor einem Großflugtag in Fürstenfeldbruck, gibt der junge Pilot ein Interview. „Der schnelle Bernd“ lautet die Überschrift. Was denn die Mutter zu seiner Fliegerei sage? „Oh, sie war natürlich nicht begeistert, aber mittlerweile hat sie sich schon daran gewöhnt.“ Seine US-Fluglehrer erinnert sein Können an den berühmtesten Jagdflieger des Ersten Weltkrieges, Freiherr von Richthofen – und sie taufen ihn „The Baron“.
Bis zu 2300 Stundenkilometer schnell
Kuebart ist ein nachdenklicher junger Mann, intelligent, aber in der Schule ist er nicht besonders ehrgeizig. In Sport hat er eine 1, in Musik eine 2, ansonsten treffen die Blauen Briefe zuverlässig ein; aber wenn es darauf ankommt, kurz vor dem Schuljahresende, kriegt er die Kurve. So schafft er das Abi.
Kuebart ist Leichtathlet und läuft die 100-Meter-Strecke in 11,9 Sekunden, er spielt Fußball und geht für die erste Mannschaft der Handballer des TSV Lemgo auf Torejagd. Entspannung findet er in der Lektüre mittelalterlicher Lyrik. Den ersten Lufthüpfer macht er auf einer einmotorigen Piper-Sportmaschine. Spitzengeschwindigkeit: rund 200 Stundenkilometer. Von der Schallmauer ist Kuebart noch weit entfernt.
Er ist 22, als er 1958 nach Nörvenich kommt. Hier lernt er das Fliegen auf dem Düsenjet F-84 und wird schließlich als Pilot des Starfighters auserkoren.Der Nachbrenner beschleunigt den Jet auf bis zu 2300 Stundenkilometer – zweifache Überschallgeschwindigkeit. Daheim, auf den Landstraßen von Bad Salzuflen, fährt Kuebart Volkswagen – aber nicht schneller als Tempo 80. Der Pilot hasst die Raserei auf der Straße.
„Er wollte nur fliegen, schön fliegen“
Kuebart und der aus Berlin stammende Wolfgang von Stürmer genießen die Zeit in Palmdale, die Umschulung auf die F-104 in den USA. In ihrer Freizeit gleiten sie in einem Straßenkreuzer durch den sonnigen Westen. Ihr Training ist hart. In der Zentrifuge müssen die Piloten das Vielfache ihres Körpergewichtes aushalten. In der Unterdruckkammer werden die Belastungen des Überschallflugs in einer Höhe von 7500 Metern durch Sauerstoffentzug simuliert. Daneben zahllose Theoriestunden. Das Handbuch, das jeder Pilot auswendig können muss, DIN A4, ist sieben Zentimeter dick. Die Betriebsanleitung füllt drei zusätzliche Aktenordner. Ein Gräuel für Kuebart.
In Zeiten des Kalten Krieges müssen sich die Männer zudem Ziel-Koordinaten in Osteuropa einprägen – jeder zwei für Atombombenabwürfe. Sie lernen Anflugwege, Zwischenzeiten für Kursänderungen, Flughöhen und das Geländebild der Strecke auswendig. Doch Bernd ist nicht nach Kaltem Krieg, erzählt sein Bruder Jörg dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Er wollte nur fliegen, schön fliegen – und zeigen, was Maßarbeit heißt bei diesen schnellen Maschinen.“ Erhard von Stürmer, Bruder von Wolfgang von Stürmer, beschrieb dieser Zeitung seinen Bruder ganz ähnlich: „Wolfgang war ein leidenschaftlicher Flieger. Und Kuebart war sein bester Freund, sie waren unzertrennlich.“
Lesen Sie hier den zweiten Teil der Geschichte „Sturzflug in den Tod“