- Hassmails, Morddrohungen, lockere Radmuttern: Immer mehr Lokalpolitiker haben Angst um ihr Leben, stehen sogar unter Polizeischutz.
- Die Folgen sind dramatisch: Bürgermeister treten zurück – oder wollen sich bewaffnen so wie in Kamp-Lintfort.
- Unser Reporter hat mit betroffenen Lokalpolitikern und Experten über diese Entwicklung gesprochen, die nicht nur verstörend, sondern auch demokratiegefährdend ist.
- Unser großes Dossier.
Lange müssen Rainer und Jennifer Klotz nicht kramen, um ihre Ausstattung für die Demo gegen die Rechten zu finden.
Die Fahnen mit den Aufschriften „Refugees welcome“ und „Solidarität heißt Widerstand“, die sie wenig später am Samstagmittag in der Innenstadt von Kamp-Lintfort schwenken werden, liegen griffbereit in einer Abstellkammer ihres Vereins für Jugendhilfe. Das Ehepaar Klotz ist schon häufig auf die Straße gegangen, um „die Demokratie zu verteidigen“, wie es sagt. Gerade jetzt, wo ihr Bürgermeister von Rechten bedroht werde, sei es wichtig, ein Zeichen zu setzen. „Es ist ein Erkalten der gesellschaftlichen Atmosphäre spürbar“, sagt der Medienpädagoge Klotz. Die Demokratie sei in Gefahr. Frau Jennifer fügt an: „Wir rutschen da in eine Zeit rein, wie sie vor 1933 war.“
Es mag vielleicht eine Zuspitzung sein, was Jennifer Klotz da sagt. Auch wenn der Vergleich mit der Weimarer Republik und den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts derart nahe liegt, dass er schon mehrfach gefallen ist.
Amtsträger sollen „vergast” oder „aufgehängt” werden
Was ist eigentlich los in diesem Land? Menschen schreiben von Hass getrieben in sozialen Netzwerken Hetz-Botschaften, sie formulieren Droh-Briefe gegen Politiker, sie basteln Galgen und tragen sie in den Straßen zur Schau. Sie fordern Säuberungen wie zu Zeiten der Hitler-Diktatur: Nach ihrem Willen sollen Amtsträger „vergast“ oder „aufgehängt“ werden, auf jeden Fall sollen sie „verrecken“.
Worte sind längst zu Taten geworden. Ein Todesopfer hat die Hasswelle gegen Kommunalpolitiker schon gefordert. Am 2. Juni 2019 wurde der Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Wohnhaus erschossen. Und das offenbar nur, weil er die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin verteidigte.
Morddrohungen gegen die Kinder erhalten
Auch eine Lokalpolitikerin aus dem Verbreitungsgebiet des „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet auf Nachfrage Erschütterndes. Während des Bundestagswahlkampf 2017 hätten unbekannte Täter, die mutmaßlich aus dem rechtsextremen Spektrum stammen, die Schraubenmuttern eines Autoreifens an ihrem Wagen gelöst. Im Kofferraum lagen Kampagnen-Plakate ihrer Partei. Bei Tempo 80 löste sich das Rad, nur durch Glück kam niemand zu Schaden. Die Frau, die aus Sicherheitsgründen unerkannt bleiben möchte, schaltete den Staatsschutz ein. Ein Jahr später erhielt sie eine Drohmail. Der Verfasser habe darin geschrieben: „Ihre Kinder sterben jetzt" und nannte dabei sogar deren Vornamen. Grund für den Hass waren offenbar ihre freiheitlichen, weltoffenen politischen Ansichten. Zwei Monate stand sie unter Polizeischutz.
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Auch andere kamen nur durch Glück mit dem Leben davon. Der damaligen Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker wurde 2015 bei einer Wahlkampfveranstaltung in den Hals gestochen. Noch heute bekommt sie nach Angaben des Presseamtes der Stadt Köln etwa 30 Drohungen im Monat via Social Media. Hinzu seien 2019 etwa 50 Drohungen und Beleidigungen per Brief und E-Mail gekommen. Altenas Stadtoberhaupt Andreas Hollstein wurde in einer Imbiss-Bude attackiert und verletzt.Beide erhielten auch danach weiter Morddrohungen.
Die Statistik spiegelt den Trend: Im Jahr 2019 hat sich die Zahl der polizeilich erfassten Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger in vielen Bundesländern deutlich erhöht. Bundesweit wurden 1241 Straftaten erfasst. NRW, das seit 2016 eine eigene Statistik für solche Delikte führt, hat seitdem 125 Straftaten gezählt. Davon wurden 66 der rechten und 27 der linken Szene zugeordnet. Drei gingen auf das Konto ausländischer Ideologien und 29 seien keinem Bereich zuzuordnen gewesen.
Hassmails sind an der Tagesordnung
Die Motivation sei immer die gleiche: „Sie zielen darauf, sowohl den einzelnen Politiker, als auch das Umfeld einzuschüchtern und von ihrem Engagement abzuhalten", sagte eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums. Eine Umfrage von „Report München“ ergab, dass mehr als 40 Prozent der kommunalen Verwaltungen Erfahrungen mit Hass-Mails, Einschüchterungen und Übergriffen gemacht haben.
Doch es sind längst nicht nur Politiker, die sich fürchten müssen. Hilfskräfte, Sanitäter, Jobcenter-Mitarbeiter werden angegriffen, beleidigt, bepöbelt, umgebracht. In Köln wurde im Dezember ein Mitarbeiter der Stadt bei einem Messerangriff tödlich verletzt, weil er ausstehende Zahlungen eintreiben wollte.
Auch der Antisemitismus gewinnt an Boden. In Halle wollte ein mutmaßlich Rechtsextremer Juden in einer Synagoge erschießen und tötete dann zuerst eine Fußgängerin und anschließend einen Gast in einem Döner-Imbiss. Ebenfalls in Halle haben diese Woche bislang unbekannte Täter das Bürgerbüro des SPD-Politikers Karamba Diaby beschossen.
Gerade erst machte der jüdische Pianist Igor Levin im „Tagesspiegel“ öffentlich, dass er Morddrohungen erhalte. Sein Blick auf das Land ist besorgniserregend. Die moralische Richtung stimme nicht mehr, schreibt er auch mit Blick auf die Bedrohung von Politikern durch Rechtsextreme. „Mehr Spaltung, mehr Anfeindung, mehr Ausgrenzung, statt Zusammenhalt, Integration und Respekt.“ CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer spricht angesichts der Bedrohungsszenarien von einem „Ausdruck des sich verändernden Klimas in unserer Gesellschaft“. In einer Zeit, die nahezu alle Möglichkeiten zur Aufklärung bietet, scheint der Trieb zum Scheiterhaufen stärker als der zur intellektuellen Erleuchtung. Für die bedrohte Lokalpolitikerin aus dem Verbreitungsgebiet, die anonym bleiben will, ist der Zeitpunkt zum Handeln gekommen: „Wir sind in einer Phase der Demokratie, in der die Demokraten laut werden müssen“, fordert sie.
Rücktritte wegen ständiger Angst
Seit der Flüchtlingswelle 2015, als die AfD den Mythos vom Rechtsbruch schuf, wurden Drohungen gegen Kommunalpolitiker immer häufiger. Amtsträger treten zurück, weil ihnen ihr Leben lieber ist als ein Engagement in ständiger Angst.Andere versuchen der Bedrohungskulisse zu trotzen, wollen sich potenziellen Tätern aber nicht schutzlos ausliefern. Christoph Landscheidt, SPD-Politiker, Jura-Professor, seit 1999 Bürgermeister von Kamp-Lintfort, bei der letzten Wahl mit knapp 88 Prozent im Amt bestätigt, hat jüngst einen großen Waffenschein beantragt, weil er nach eigener Aussage von Rechtsradikalen bedroht wird und sich nicht mehr sicher fühlt. Er hatte während des EU-Wahlkampfs im vergangenen Jahr Plakate der rechtsradikalen Partei „Die Rechte“ abhängen lassen. Slogans wie „Israel ist unser Unglück“ und „Wir hängen nicht nur Plakate“ wollte er in seiner Gemeinde nicht dulden. Die Rechtsradikalen erstatteten Anzeige, dann hätten auch die Drohungen begonnen.
Eine Bewaffnung von Politikern ist die für die Behörden keine Option. Bei Anliegen, wie dem von Bürgermeister Landscheidt, verweisen sie reflexhaft auf das Gewaltmonopol des Staates. „Wenn es Anhaltspunkte für Gefährdungen gibt, werden alle nötigen Maßnahmen ergriffen“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul. Der NRW-Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, Michael Mertens, mahnte: „Sicherheit gehört in die Hände von Profis. Das ist hier die Polizei.“
Dass die Polizei das Gewaltmonopol im Staat besitzt, darin zweifelt auch Landscheidt nicht. Und doch sind es beunruhigende Zeilen, die er vergangene Woche veröffentlicht hat. „Es habe zahlreiche „konkrete Situationen in meinem privaten und beruflichen Umfeld gegeben, in denen polizeiliche Hilfe nicht rechtzeitig erreichbar gewesen wäre und auch in Zukunft nicht erreichbar sein würde.“ Landscheidts Genosse Jürgen Preuß teilt diese Einschätzung. Kamp-Lintfort sei Teil eines Kreises mit großer Fläche und einer Polizei mit ausgedünntem Personal, sagt der SPD-Fraktionschef im Stadtrat von Kamp-Lintfort. „Der Staat ist nicht mehr so wehrhaft, wie es eine gut funktionierende Demokratie erfordert. Da kann ich das Bedürfnis nach Schutz nachvollziehen.“
Paradoxe Lage: „Die Rechte“ warnt vor Wildem Westen
Eine Waffe kann möglicherweise ein Sicherheitsgefühl befriedigen, ob sie aber bei einer akuten Gefährdung auch griffbereit, geladen, entsichert und der Besitzer geistesgegenwärtig genug ist, sie dann auch zu benutzen, ist eine andere Frage. Hätte Walter Lübcke den oder die Täter zur Strecke bringen können, bevor sie ihn erschießen, hätte er eine Pistole gehabt? In der Logik der US-Republikaner wäre das so. Demnach hilft nur eines, wenn jemand mit einer Pistole um sich ballert: Eine eigene Waffe. Prinzip Wettrüsten. Mit diesem Argument verteidigt die National Rifle Agency (NRA) seit Jahrzehnten erfolgreich ihre Lobbypolitik.
Die Praxistauglichkeit freilich ist zweifelhaft. Dass sich in Deutschland gemäßigte Politiker bewaffnen wollen, um sich im Ernstfall gegen radikale Kräfte wehren zu können, ist eine neue Entwicklung. Dass die Rechten im Gegenzug vor Zuständen wie im Wilden Westen warnen, verdeutlicht, wie paradox die Lage ist.
Begibt man sich auf die Suche nach den Gründen für den steigenden Zorn der Wutbürger, die völlige Enthemmung, das Bedürfnis, Menschen zu strafen oder gar zu töten, stößt man auf das immer wieder gleiche Erklärungsmodell. Als Übel wurde das Internet ausgemacht, im dem die Sozialen Netzwerke im gesellschaftlichen Konflikt wie ein Brandbeschleuniger wirken. Am Wochenende geißelte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ die Auswüchse im Netz und dessen Anonymität. Wer sich im Internet bewege, müsse das mit seinem Klarnamen tun, fordert der CDU-Politiker, der seit eines Angriffs im Rollstuhl sitzt und nach eigener Aussage seit 30 Jahren unter Polizeischutz steht.
In der Debatte um bedrohte Politiker aber warnt er vor „Hysterie“. Im Vergleich zu einem Abgeordneten in Berlin sei Feuerwehrmann in Australien derzeit der weitaus gefährlichere Job, sagte Schäuble. Er scheint dabei zu verkennen, dass es sich bei Buschfeuer um Naturkatastrophen handelt, deren Bekämpfung zur Kernaufgabe von Feuerwehrleuten gehört. Wer Politiker wird, tut das hingegen nicht in erster Linie deshalb, um sein Leben vor wildgewordenen Neonazis zu schützen.
„Politiker, die sich zurückziehen, destabilisieren die Demokratie"
Und doch: Es lodert ein Konfliktfeuer in Deutschland, das sich anschickt, zum gesellschaftlichen Flächenbrand zu werden. Wissenschaftler sehen die Entwicklung mit Sorge. „Politikerinnen und Politiker, die sich zurückziehen, sind eine massive Gefahr und das destabilisiert die Demokratie“, sagt Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld.
Eine Langzeitstudie zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ habe gezeigt, dass schon seit 2010, in den Jahren nach der Finanzkrise, rechtspopulistische Milieus eine erhöhte Aggressions- und Gewaltbereitschaft zeigten. Die Auseinandersetzung um Migration und Flüchtlinge habe die gesellschaftliche Polarisierung weiter verschärft.Den Rechten sei es gelungen, gerade Bürgermeister, die sich qua ihres Amtes um Flüchtlinge zu kümmern haben, als „Systemvertreter“ zu adressieren und Hasskampagnen gegen die Integrationsbemühungen als „Widerstand gegen die Eliten“ zu verkaufen. Dieser Widerstand habe sich inzwischen in der politischen Mitte verankert.
In der Gesellschaft zeichne sich der Trend ab, Konflikte nicht mehr konstruktiv, sondern destruktiv zu lösen, sagt Zick. Das wichtigste Mittel: Emotionsäußerungen in den sozialen Netzwerken. „Wir stehen vor dem Problem, dass jede zweite Person meint, sie würden eher ihren Gefühlen als Expertinnen und Experten glauben“, sagt Zick mit Verweis auf seine Studie „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“. Durch das Erstarken des Populismus wiederum fühlten sich die Extremisten genötigt, ihrerseits Akzente zu setzen. „Es ist ein Wettbewerb, so perfide das ist.“
Kampf im Netz lässt Säulen der Demokratie bröckeln
Der Kampf um die Deutungshoheit im Netz lässt auch die Säulen der Demokratie bröckeln. In einer großen repräsentativen Umfrage des Instituts Anfang 2019 hatten zwar die meisten Befragten gesagt, dass Demokratie die beste Staatsform sei. Allerdings stimmten auch 36 Prozent der Aussage zu, dass sie „aus nationalem Interesse nicht allen die gleichen Rechte gewähren“ wollten.
Immerhin vier Prozent waren der Meinung, dass „unter bestimmten Umständen die Diktatur die bessere Staatsform“ sei, elf Prozent wünschten sich einen „Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“.
Die Politik ist gewillt, die Probleme anzugehen. Zumindest schickt man sich an, die Symptome zu bekämpfen. Annegret Kramp-Karrenbauer fordert staatlichen Schutz für bedrohte Kommunalpolitiker. Innenminister Horst Seehofer beteuert, dass die Bundesregierung die zunehmende Bedrohungslage im Blick habe und verweist auf ein Gesetzespaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das Ende vergangenen Jahres auf den Weg gebracht worden sei. Demnach sollen auch Kommunalpolitiker unter den besonderen Schutz des Strafrechtsparagrafen 188 gestellt werden. Der schützt bisher „im politischen Leben des Volkes stehende Personen“ vor übler Nachrede und Verleumdung. Bislang wird er vor allem bei Bundes- und Landespolitikern angewendet. Ob das den gut 11 000 Bürgermeistern Deutschlands hilft, wird sich zeigen.
Gefühl sozialer Ungerechtigkeit
Auch schärfere Gesetze allein scheinen nicht geeignet, ein nachhaltig gestörtes gesellschaftliches Klima wieder ins Lot zu bringen. „Es ist falsch, dass Politik ständig in ein Kontroll- und Sicherheitsparadigma verfällt, sobald Extremismus auftaucht“, sagt Konfliktforscher Zick. Die Probleme lägen vielmehr in der Lebenssituation des Einzelnen und seiner Erfahrung von Ungerechtigkeiten. Marode Schulen, heruntergekommene Gebäude würden in wirtschaftlich abgehängten Regionen wie etwa dem Ruhrgebiet zu einem Gefühl von Missachtung und Minderwertigkeit führen. Hinzu kämen Themen wie Kinder- und Altersarmut oder Wohnraum. Überall manifestiere sich das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit.
In der Debatte fordert Zick eine Rückkehr zur Sachlichkeit. „Der Prozess der Zivilisation schreitet mit der Emotionskontrolle voran“, zitiert er den Soziologen Norbert Elias und zieht ein Fazit, das nachdenklich macht. „In diesem Sinne ist die Gesellschaft anti-zivilisatorisch geworden.“
„Volksgericht statt Waffenschein"
Seinen Antrag auf einen Waffenschein hatte Landscheidt öffentlich nicht bekannt gemacht. Bis die Partei „Die Rechte“ ihn identifizierte. Zwei Tage später schwenkten sie im Herzen von Kamp-Lintfort Reichsflaggen und zeigten ein Transparent, auf dem stand: „Volksgericht statt Waffenschein“. Auch das muss eine Demokratie ertragen.
Landscheidt steht mittlerweile unter Polizeischutz. Er hat am Freitag seine Klage auf Erteilung eines Waffenscheins zurückgezogen. Er verspreche sich von diesem Schritt „eine Versachlichung der Diskussion, in der es dann hoffentlich nicht mehr um meine Person, sondern um das gesellschaftliche Problem geht, wie wir Hetze, Hass und Bedrohungen möglichst verhindern und uns dagegen besser schützen können".