Düsseldorf – Er war wohl einer der schwierigsten Fälle, den die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden lösen mussten. Etwa 15 Jahre lebte der gewalttätige Extremist mit dem Aliasnamen Raschid K. in Mönchengladbach. 2004 aus Tschetschenien nach Deutschland eingewandert, wurde sein Asylantrag ein Jahr später abgelehnt. Er konnte aber nicht abgeschoben werden, da der Mann nach Auskunft der russischen Behörden dort unbekannt war.
Tief verwurzelt in der islamistischen Salafisten-Szene, beging K. in den folgenden Jahren zahlreiche Straftaten, für die er auch verurteilt wurde. Zudem posierte er auf einem Foto mit einer Kalaschnikow, in seiner Wohnung wurde eine Pistole mit Schalldämpfer gefunden. K. wurde als „Gefährder“ eingestuft. Das sind Menschen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität, denen die Polizei schwere Gewalttaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut.
Aber erst im September 2020, nachdem die russischen Behörden den Mann in enger Zusammenarbeit mit nordrhein-westfälischen Dienststellen mit seinen richtigen Personalien identifizieren konnten, stellte die Russische Föderation ein entsprechendes Passersatzpapier aus. Raschid K., oder wie auch immer der Islamist heißt, konnte abgeschoben werden.
Er ist einer der 38 Gefährder, die die schwarz-gelbe Regierungskoalition seit Beginn der Legislaturperiode in ihre Heimatländer zurückgeführt hat. Dies ist einem Papier des NRW-Flüchtlingsministeriums zu entnehmen, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger vorliegt“. Drei weitere Gefährder sind demnach unter dem Druck der Ermittlungen „freiwillig überwacht ausgereist“, wie es im Beamtendeutsch heißt. Zudem wurden noch 30 sogenannte „sicherheitsrelevante Personen“ abgeschoben. Dies sind Extremisten, bei denen objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass auch sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung verüben werden.
Mit den 68 Terror-Verdächtigen, die insgesamt bis zum Stichtag 30. Juni 2021 abgeschoben wurden, liegt NRW im bundesweiten Vergleich an der Spitze, heißt es aus der Landesregierung. „Das ist ein großer sicherheitspolitischer Erfolg, denn jeder von ihnen besitzt das Potenzial eines Anis Amri“, kommentiert NRW-Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) die Zahlen: „Wir schöpfen alle rechtlichen Möglichkeiten aus. Trotz erschwerter Bedingungen in der Pandemie ist es deshalb in diesem Jahr bisher bereits gelungen, sieben Gefährder sowie sechs sicherheitsrelevante Personen abzuschieben.“
Drei Extremisten nach Afghanistan abgeschoben
Die Liste der Länder, in die die Islamisten ausgeflogen wurden, ist lang. Im laufenden Jahr beispielsweise wurden drei Personen in die Türkei sowie jeweils einer nach Somalia, den Iran, Tadschikistan oder den Kosovo abgeschoben. Auch nach Afghanistan wurde ein Extremist zurückgeführt, wohin schon 2019 zwei Gefährder überstellt wurden.
Von einer Entspannung der Situation oder gar einer Entwarnung aber könne noch lange keine Rede sein, heißt es aus dem Ministerium. Weitere Zahlen erklären die Bedenken: Mit Stand 30. Juni dieses Jahres gab es nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ 196 islamistische Gefährder und 180 „Relevante Personen“ in NRW – insgesamt also 376 sicherheitsbedenkliche Jihadisten. Hinzu kamen noch 40 als terrorverdächtig eingestufte Aktivisten aus dem rechten Spektrum sowie 19 Linksextremisten und 26 Akteure mit einer „ausländischen Ideologie“, beispielsweise extremistische PKK-Anhänger.
376 sicherheitsbedenkliche Jihadisten in NRW
Dass es in NRW gelungen ist, einen zunehmend größer werdenden Teil vor allem der islamistischen Extremisten abzuschieben, hat sicherlich auch mit den Strukturen zu tun, die seit der Amtsübernahme der schwarz-gelben Regierungskoalition geschaffen wurden. Die sogenannte Sicherheitskonferenz (Siko), die beispielsweise über die sicherheitsrelevante Einstufung von Extremisten und den daraus resultierenden Konsequenzen berät, führte unter der rot-grünen Vorgängerkoalition ein eher untergeordnetes Dasein. Angesiedelt als eine von vielen Aufgaben im Referat „Ausländerrecht“ des NRW-Innenministeriums gab es Insidern zufolge lediglich eineinhalb Planstellen, die für die fortwährende Bearbeitung solcher Fälle vorgesehen waren. Abschiebungen gab es auch deshalb kaum.
Denn die Fälle sind oft äußerst kompliziert. Damit eine Rückführung durchgesetzt werden kann, sind zahlreiche Abstimmungen notwendig. Und ein gemeinsames Vorgehen der beteiligten Behörden. Nach der Landtagswahl 2017 wurde für die Sicherheitskonferenz deshalb ein eigenes Referat im Flüchtlingsministerium gegründet. Seit Januar 2019 nehmen neben dem Landeskriminalamt, dem Verfassungsschutz und Vertretern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auch die Bundespolizei und die Zentralstelle Terrorismusverfolgung der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf an den regelmäßigen Sitzungen einmal im Monat teil. Wenn eine rasche Entscheidung notwendig wird, etwa weil es gravierende neue Erkenntnisse zu einem Terrorverdächtigen gibt, tagt das Gremium in speziellen „Fallkonferenzen“ auch häufiger und kurzfristig.
Konferenzen mit Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft
„Hier sitzen dann alle am Tisch, die zur Klärung sogar von Detailfragen notwendig sind. Entscheidungen können zügig getroffen werden, der Draht ist kurz“, heißt es aus Sicherheitskreisen. Auch Eventualitäten bei einer bereits beschlossenen Rückführung könnten bedacht werden. Beispielsweise dass der Abzuschiebende noch am Flughafen einen Asylfolgeantrag stellen könnte. „Und dann muss eben ein Vertreter des Bundesamtes für Migration anwesend sein, um unmittelbar zu prüfen, ob der Antrag zulässig ist oder nicht.“
Bei ihren Überlegungen ziehen die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz neuerdings auch den Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes in Betracht. Demnach können Gefährder ohne vorhergehende Ausweisung abgeschoben werden, wenn aufgrund „einer auf Tatsachen gestützten Prognose“ eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik oder eine akute terroristische Gefahr besteht. „Das kriegen wir nie durch, die Hürden sind zu hoch, das ist faktisch unanwendbar“, habe es vor dem Regierungswechsel immer geheißen, berichten Insider. Deshalb sei der Paragraf, beispielsweise beim späteren Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri, auch nie angewendet worden.
„Weder Seehofer noch Außenminister Maas haben für Verbesserungen gesorgt“
Schwarz-Gelb jedoch hat seit dem Regierungswechsel fünf Ausländer mit dieser Argumentation zurückgeführt. Entscheidend dabei wären die Diskussionen in der Siko gewesen, heißt es aus Sicherheitskreisen. „Der Paragraf ist das schärfste Schwert des Rechtsstaates, weil er einen Haftgrund für die Abschiebungshaft ermöglicht und Fristen verkürzen kann.“
„Wir könnten aus den Bundesländern noch erfolgreicher und präziser diejenigen abschieben, die unsere öffentliche Sicherheit gefährden, wenn die Bundesregierung endlich für verbesserte Rücknahmeabkommen mit den jeweiligen Staaten sorgen würde“, betont der NRW-Flüchtlingsminister Stamp. Dies sei längst überfällig. „Es ist eine Enttäuschung, dass weder Innenminister Horst Seehofer noch Außenminister Heiko Maas für die dringend notwendigen Verbesserungen gesorgt haben“, so der FDP-Politiker.