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„Gesundheitspolitischer Skandal“In Coesfeld überschlagen sich die Ereignisse

Lesezeit 4 Minuten

Der Schlachtbetrieb musste am Freitagabend schließen.

  1. Nachdem mehr als 100 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, hatte Westfleisch eine Schließung zunächst ausgeschlossen.
  2. Bei einem Kreistagsabgeordneten aus Coesfeld sorgte das für Verblüffung. Er beschwerte sich beim NRW-Gesundheitsminister.
  3. Am Freitagabend wird dann bekannt, dass die Fleischerei schließen muss. Doch gerade die Arbeitsbedingungen vor Ort werfen viele Fragen auf.

Coesfeld – Die Entscheidung hatte Hermann-Josef Vogt verblüfft. Noch am Donnerstag hatte Westfleisch eine Schließung seines Betriebes abgelehnt, obwohl sich offenbar innerhalb nur weniger Tage mehr als 100 der 1200 Mitarbeiter am Standort Coesfeld mit dem Coronavirus infiziert haben. Der SPD-Kreistagsabgeordnete aus Coesfeld setzte am gleichen Tag einen Offenen Brief an NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann auf. Darin spricht er von einem „gesundheitspolitischen Skandal“. Vogt fordert die sofortige Schließung der Schlachterei.

Einen Tag später überschlagen sich die Ereignisse. Noch am Freitagnachmittag erklärt die Schlachterei aus Coesfeld auf Anfrage dieser Zeitung, dass der Betrieb in reduziertem Umfang weiter möglich sei. In derselben Zeit aber kontrollierten offenbar bereits Arbeitsschützer der Bezirksregierung Münster den Betrieb und stellten sowohl im Zerlegebetrieb als auch in den Umkleiden Verstöße gegen die Infektionsschutzvorgaben fest. Weitere Corona-Tests hatten zudem ergeben, dass die Anzahl der infizierten Mitarbeiter von 129 auf 151 gestiegen ist. Am Abend wird die Schlachterei geschlossen. Der Schritt sei unumgänglich, teilt Landrat Christian Schulze Pellengahr mit.

Corona-Krise: NRW hat einen neuen Hotspot

Mit Coesfeld hat NRW nun einen neuen Corona-Hotspot, der mitten hineinplatzt in Laschets Plan von der Rückkehr in eine „verantwortungsvolle Normalität“. Allein am Donnerstag wurden nach Angaben der Behörden 52 Neuinfektionen gemeldet. Damit überschreitet der Kreis eine Grenze, die Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten gezogen haben: Um bei lokalen Ausbrüchen den Überblick über Infektionsketten zu behalten, müssen Landkreise und kreisfreie Städte mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage ein konsequentes Beschränkungsverbot umsetzen. Die Entscheidung darüber sollen die Kreise allerdings selbst treffen.

Alles zum Thema Karl-Josef Laumann

Am Freitagnachmittag gibt Gesundheitsminister Laumann bekannt, dass für den Kreis Coesfeld die ab Montag geltenden Lockerungsmaßnahmen um eine Woche verschoben werden. Nur Schüler und Kita-Kinder sollen wie geplant wieder unterrichtet und betreut werden.Derweil wurde bekannt, dass sich das Virus auch bei einem Schwesterbetrieb des Werks ausgebreitet hat. Am Standort Oer-Erkenschwick im Kreis Recklinghausen sind demnach 33 von 1250 Mitarbeitern betroffen.

Kreis scheut sich zunächst vor einer Betriebsschließung

Der Kreis scheute sich zunächst, den Standort Coesfeld vorübergehend zu schließen. Schlachtbetriebe gelten als „systemrelevant“. Die Versorgung der Bevölkerung mit Fleischprodukten sei elementar, schreibt der Verband der Fleischwirtschaft mit Sitz in Bonn. Westfleisch hatte noch versucht, mit weiteren Maßnahmen die Schließung abzuwenden. So nahm eine Kamera etwa kontaktlos die Temperatur der Beschäftigten.

Der Fall Westfleisch wirft Fragen auf: Die Hälfte der Belegschaft am Standort Coesfeld sind Leiharbeiter aus Osteuropa, die überwiegend in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Möglicherweise konnte sich hier das Virus rasant verbreiten. Die positiv getesteten Mitarbeiter wurden laut Westfleisch eilig in angemietete Wohnungen separiert. Außerdem sei in mehreren Sprachen auf die Hygieneregeln hingewiesen worden, beteuerte die Firma.

Arbeitsbedingungen schon vor Corona grenzwertig?

Der SPD-Kreistagsabgeordnete Vogt macht sich dennoch Sorgen. Sein Vertrauen in Westfleisch ist gering. In seinem Brief fordert er Minister Laumann auf, die Wohnungen unangemeldet inspizieren zu lassen. Zudem soll die Firma durch unabhängige Gutachter nachweisen, dass sie mit ihren Mitarbeitern gut umgehe. „Die Beschäftigten werden von der Firma abgeschottet, Kontakte gibt es kaum.“ Die Arbeitsbedingungen seien auch schon vor Corona grenzwertig gewesen. Vogt spricht von einer „Form der modernen Sklaverei“.

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Nicht nur Westfleisch hat mit Corona-Infektionen zu kämpfen. Auch andere Branchenriesen, die beim Schlachten auf Arbeiterkolonnen aus Osteuropa setzen, sind von Virus-Ausbrüchen betroffen. Allein im Betrieb Müller Fleisch bei Pforzheim gab es in den vergangenen Wochen demnach mehr als 200 Infizierte. Bei Vion in Schleswig-Holstein sind es mehr als 50 positiv getestete Mitarbeiter. Das Unternehmen hat die Produktion vorübergehend eingestellt.

NRW hat erste Konsequenzen gezogen: Am Freitagnachmittag haben Gesundheitsminister Laumann und Landwirtschaftsministerin Ursula Heinen-Esser bekanntgegeben, die etwa 20.000 Mitarbeiter der 35 großen Schlachtbetriebe in NRW auf das Virus durchzutesten. Und fast hat es den Anschein, als hätte Laumann die Forderungen des SPD-Manns Vogt erhört. Er kündigte an, die Sammelunterkünfte der Arbeiter aus dem Ausland unter die Lupen zu nehmen. Seine Kritik am Umgang der Branche mit Billigarbeitskräften fällt heftig aus. Er betont, dass nicht die Werksarbeiter schuld an dem Ausbruch seien. „Es sind die Strukturen, in denen die Fleischwirtschaft arbeitet.“