Köln – Ihre Lage ist aussichtslos. Es ist der 29. Dezember 2017, ein Freitag. Emilia (Name geändert) sitzt auf der Rückbank eines Autos in einem Waldstück bei Essen, umringt von vier Männern. Sie trinken Wodka und Energy-Drinks. Die Türen sind verriegelt, das Handy musste Emilia abgeben. Als sie versucht, das Telefon wiederzubekommen, boxt ihr einer der Jungen mit der Faust in den Bauch. Sie müsse nun mit allen schlafen, sonst werde sie „grün und blau geschlagen“. Dann wird sie vergewaltigt. Emilia, 16 Jahre alt, weint, fleht, dass man von ihr ablassen solle, sie klagt über Schmerzen. Doch die Männer machen weiter, einer nach dem anderen. Autotür auf, Autotür zu, viermal. Danach fahren sie Emilia nach Hause. So wird sie es wenige Stunden später der Polizei schildern.
Am 13. Juli beginnt an der Jugendkammer des Essener Landgerichts der Prozess gegen fünf Jugendliche, die mit ihren mutmaßlichen Taten international für Entsetzen gesorgt haben.
Den fünf Angeklagten aus dem Ruhrgebiet wird vorgeworfen, zwischen August 2016 und Januar 2018 sieben minderjährige Mädchen unter anderem entführt, gemeinschaftlich missbraucht, vergewaltigt oder das zumindest versucht zu haben. Zu Beginn der mutmaßlichen Tatserie waren einige der Angeklagten selbst noch Kinder, der Jüngste gerade mal 15, der Älteste 22 Jahre alt. Zusätzliche Brisanz verleiht dem Fall in einer politisch aufgeladenen Zeit folgender Umstand: Die meisten Angeklagten sind Mitglieder von Sinti-Familien.
Opfer sind teilweise schwer traumatisiert
„Meine Mandantin ist schwer traumatisiert, sie konnte lange nicht einmal das Haus verlassen. Für die Familie ist nichts mehr so, wie es vorher war“, sagt Jan Czopka, der Emilia vor Gericht als Nebenkläger vertreten wird. „Was diesen Fall so erschreckend macht, ist das gezielte und skrupellose Vorgehen.“
Die Masche war laut Anklage immer dieselbe, die Rollen klar verteilt: Einer der Jungen war zuständig, die Mädchen „zu besorgen“. Er spielte den Loverboy, bezirzte Mädchen aus dem Bekanntenkreis, schickte Liebesbotschaften per WhatsApp. Ziel war, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen. Man verabredete sich, holte die Mädchen mit dem Auto ab, an einer verabredeten Stelle stiegen dann die Kumpels zu, gemeinsam ging es an einen entlegenen Ort. Die Jungen entrissen der Jugendlichen das Handy, bedrohten sie manches Mal sogar mit dem Tod, schlugen, missbrauchten oder vergewaltigten sie.
Um den Mädchen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage zu verdeutlichen, soll in mindestens einem Fall am Tatort sogar eine Schlägerei inszeniert worden sein. Der Lockvogel sollte demnach so tun, als wolle er das Mädchen verteidigen. Daraufhin, so die Anklage, brüllten ihn seine Mittäter an, zogen ihn aus dem Auto und gaben vor, ihn zu verprügeln. Auch nach der Tat kam dem angeblichen Vertrauten offenbar eine wichtige Rolle zu.
Mit gespielter Reue versuchte er, die Missbrauchte von einer Strafanzeige abzuhalten. Ginge sie zur Polizei, würde sie auch sein Leben zerstören, habe einer der Angeklagten gewinselt. Wurden die Mädchen weich, gab es Entwarnung. Ob sie noch etwas gesagt habe, soll einer der Angeklagten nach Emilias mutmaßlicher Vergewaltigung im Chat gefragt haben. Alles im guten Bereich, schrieb der Lockvogel an seine Freunde. Er habe die anderen schlechtgemacht, er sei der Gute. Sein Kumpel soll geantwortet haben: „Egal, Hauptsache sie pukkert nicht.“ In diesem Fall hatten sie das Mädchen unterschätzt.
Extra eingerichtete WhatsApp-Gruppe
„Scorpion machen“, nannten die Jungen ihre Jagd in der WhatsApp-Gruppe, die sie eigens für die Planung der Taten eingerichtet haben sollen. Möglicherweise in Anspielung auf den giftigen Stich des Spinnentiers. In ihre Chat-Gruppe stellten die mutmaßlichen Täter den Ermittlungen zufolge Bilder potenzieller Opfer ein, posteten ihre Namen und Telefonnummern. Hunderte Nachrichten gingen hin und her. Ein Auszug:
„Hast Du klar gemacht die Eine. Äh, was Du Bild geschickt hast, heute ist die dran. Schreib die mal. Hast Du die klar gemacht. Mach schon mal klar so für 17/18 Uhr.“ „Die hab ich heute schon klar gemacht. Die trefft sich nämlich gleich mit mich.“ „Bruder, halt Du ein bisschen Händchen mit ihr, gib ihr ein paar Küsschen und danach hol ich sie ab. Sag ihr dann kommt mal ein richtiger Mann.“
Dass ihre Opfer durch die Taten seelische Qualen erleiden würden, schien sie zu belustigen. „Bei mir kommen die Frauen aus mein Auto wieder raus die müssen erstmal Therapie“, soll einer im Chat gesagt haben. Die Sprachnachricht endet laut Niederschrift der Beamten mit einem Lachen.
Aufgrund der Auswertung der WhatsApp-Protokolle geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass noch mehr Mädchen Opfer der Vergewaltigungsbande geworden sind und es ebenso weitere Mittäter gibt. „Das Ergebnis der Ermittlungen legt nahe, dass es neben den Angeschuldigten weitere bislang nicht näher identifizierte Tatbeteiligte gibt“, heißt es in der Anklage. „Auch ist davon auszugehen, dass es weitere Fahrten der Tätergruppe gab, bei denen sexuelle Handlungen an jungen Frauen vorgenommen wurden.“
Allerdings werfen auch die Ermittlungen Fragen auf: Emilia hatte schon bei ihrer Aussage unmittelbar nach der Tat im Dezember 2017 einen der Täter zweifelsfrei identifiziert. Wieso konnte sich Dennis (Name geändert), der laut Anklage für das Zuführen der Mädchen zuständig war, anschließend noch an fünf weiteren Taten beteiligen? Er sei nicht auffindbar gewesen, heißt es aus Ermittlerkreisen.
Der Anwalt des Opfers sieht das anders: „Ich glaube, dass die Polizei meine Mandantin erst mal nicht ernst genommen hat. Offenbar war der Polizei das Ausmaß der Vorfälle anfangs nicht bekannt.“ Erst am 14. Februar, als sich weitere Opfer bei der Polizei gemeldet hatten und die Mittäter schon gefunden waren, wurde öffentlich nach ihm gefahndet. Einen Tag später stellte er sich. Zur Aufklärung hat er bislang nichts beigetragen. Er sitzt in der JVA Iserlohn und schweigt.
Massenvergewaltigung auch in Velbert
Vor einem Monat erst hatte die Nachricht einer Massenvergewaltigung in Velbert das Land erschüttert. Eine Gruppe von acht Jugendlichen soll im April ein 13 Jahre altes Mädchen abgepasst, sich in einem Waldstück an ihr vergangen und die Tat gefilmt haben. Eine Zunahme solcher Taten lässt sich aber nicht belegen. Laut Kriminalstatistik bewegen sich Sexualdelikte dieser Art seit Jahren auf ähnlichem Niveau. Im vergangenen Jahr ermittelten die Behörden gegen 467 Tatverdächtige, die an Gruppenvergewaltigungen beteiligt gewesen sein sollen – mehr als ein Drittel von ihnen sind unter 21 Jahren, in aller Regel männlich.
„Bei solchen Taten geht es um die Ausübung von Macht, Kontrolle und Überlegenheit“, sagt der Essener Psychologe Christian Lüdke. „In der Gruppe entsteht eine rauschhafte Dynamik, jeder macht mit, auch aus Angst hinterher als Versager dazustehen und gemobbt zu werden.“ Dass Frauen nur noch als Objekte wahrgenommen werden sei Ergebnis familiärer Prägung, aber auch dem Einfluss der neuen Medien geschuldet. „Der uneingeschränkte Zugriff auf Pornos ist dabei fast schon das geringste Problem“, glaubt Lüdke. „Die Überzeugung ist: Frauen nimmt man sich einfach.“
Erste Vergewaltigungsversuche schon 2016
Der Anklage zufolge haben die Vergewaltigungsversuche schon 2016 begonnen. Damals allerdings ließen sich die Jugendlichen noch durch das mutige Auftreten ihrer Opfer einschüchtern. In einem Fall sprang das Mädchen aus dem fahrenden Auto und versuchte, mit dem Handy ihren Vater anzurufen. Die Männer stoppten, schlugen ihr ins Gesicht und ließen sie zurück. Knapp ein Jahr später drohte ein potenzielles Opfer damit, der Sinti-Gemeinde von dem Vorfall zu berichten. Die Jungen brachten sie daraufhin nach Hause.
Besonders tragisch in diesem Verfahren ist der Fall einer 16 Jahre alten Jugendlichen, die die Vergewaltigung nach eigener Aussage nur abwenden konnte, indem sie den Männern versprach, ihnen eine Schulfreundin zu beschaffen. Laut Anklage ließ die Gruppe sie laufen und missbrauchte noch am selben Abend die Klassenkameradin. Obwohl sie das Gewissen plagte und sie beinahe selbst zum Opfer geworden wäre, wollte sie zunächst nicht zur Polizei gehen. Auch bei ihr war die Strategie der mutmaßlichen Vergewaltiger offenbar zunächst aufgegangen. Sie hatte sich in einen der Jungen verliebt.