2024 wurden mehr Gewalttaten verübt. Der Anteil minderjähriger Tatverdächtigen stieg stark an. Wieso üben Kinder Gewalt aus? Ein Gespräch mit Gina Wollinger, Professorin an der Kölner Polizeihochschule.
Mehr JugendkriminalitätKölner Kriminologin will „mehr Feminismus in der Prävention“

Die Zahl der Gewalttaten mit minderjährigen Tatverdächtigen ist laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2024 gestiegen.
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Frau Wollinger, laut der neuen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2024 stiegen die Gewalttaten bei Jugendlichen um 3,8 Prozent, bei Kindern um 11,3 Prozent. Woher kommt der starke Anstieg, gerade bei Kindern?
Gina Wollinger: Es könnte sein, dass die Polizei heute schneller, zum Beispiel auch von Schulen, hinzugerufen wird, auch, wenn es sich bei den Tatverdächtigen noch um Kinder handelt. Nachweisen können wir diese These aber nicht und sie erklärt sicher auch nicht den gesamten Anstieg.
In der Kriminologie haben wir eine geflügelte Redewendung: Kinder, die Probleme machen, haben meist selbst welche. Für Kinder und Jugendliche sind Krisen, und Erwachsene, die sich damit überfordert zeigen, zur Normalität geworden – und damit meine ich nicht nur die Corona-Pandemie. Damit sind psychische Belastungen verbunden. Die Schulen können nur wenige Angebote bieten und Therapieplätze sind rar. Insofern konnten viele Probleme von Kindern nicht abgefangen werden.
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Gina Wollinger ist Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.
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Nach Gewaltverbrechen, die von Kindern begangen werden wie zum Beispiel der Mord an Luise 2023 in Freudenberg, beginnt immer wieder eine Diskussion über die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Wie sehen Sie die Debatte?
Solche schrecklichen Taten passieren, aber sie sind selten und untypisch. Wenn wir über einen Anstieg von Gewalttaten bei Kindern und Jugendlichen sprechen, dann reden wir nicht von Mord und Totschlag. Die Debatte um die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters ist vor allem eine politische. In der Wissenschaft gibt es keine Erkenntnisse, dass es hilfreich sei, früher zu bestrafen – ganz im Gegenteil. Deshalb halte ich das Jugendstrafrecht bei Kindern für das falsche Mittel der Intervention.
Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es denn für Kinder, die schwere Gewalttaten begehen?
Wenn ich mich dagegen ausspreche, früher zu bestrafen, heißt das nicht: Lasst sie einfach laufen und machen. Natürlich muss eine Reaktion erfolgen. In NRW verfolgt das Projekt „Kurve kriegen“ einen sehr guten Ansatz: Hier betreut Fachpersonal eng sogenannte kindliche und jugendliche Intensivtäter. Die Polizei arbeitet hier mit Sozialarbeitern zusammen, die gucken, welche Defizite beim Kind existieren. Dabei bauen sie eine Bindung zu dem Kind auf und unterstützen, wo sie können.
Für Kinder ist ganz wichtig, dass sie zu mindestens einem Erwachsenen eine gute Beziehung haben – eine Person, die Anteil nimmt, das Kind ermutigt und begleitet. Wenn die Eltern das aus verschiedensten Gründen nicht schaffen, muss die Gesellschaft und der Staat Angebote schaffen.
Projekte wie „Kurve kriegen“ waren zuletzt von Sparmaßnahmen betroffen.
Bei Kindern und Jugendlichen wird sowieso zu viel gespart. Da müssen wir uns nur angucken, wie schnell wir nach Corona wieder auf Normalzustand umgeschwungen sind, ohne im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit etwas zu kompensieren. Natürlich kostet das alles Geld. Aber die Folgekosten, die wir als Gesellschaft haben, wenn Kinder und Jugendliche defizitär aufwachsen, sind noch viel höher.
Wie kann man Prävention noch effektiver machen?
Kinder erreicht man am besten in Schulen. Auch in Kitas gibt es schon Präventionsprojekte, die auf gewaltfreies Lernen und den Umgang miteinander zielen. Es gibt so viele Konzepte, so viele Vereine und Träger, auch im außerschulischen Bereich. Der Verein „Balu und Du“ stellt beispielsweise Kindern Mentoren an die Seite, die einmal die Woche etwas mit dem Kind unternehmen. Gewaltprävention heißt nicht nur Anti-Aggressionstraining. Es muss um ganzheitliche Förderung von Kindern und Jugendlichen gehen.
Was macht Ihnen gerade Hoffnung?
Wir haben es schon mal geschafft, die Kinder- und Jugendkriminalität zu reduzieren, übrigens ohne härter zu bestrafen. Von 2009 bis Mitte der 2010er Jahre haben wir einen Rückgang verzeichnet. Daran sehen wir: Es ist möglich, wir brauchen nur den politischen Willen. Dazu hat sich im Erziehungsverständnis viel geändert. Kinder und Jugendliche, die durch Gewalt auffallen, haben nämlich oft selbst Gewalt erlebt.
Bei der Gewaltkriminalität verzeichnet die PKS nicht nur einen Anstieg minderjähriger Tatverdächtiger, sondern auch nichtdeutscher. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Diese Bevölkerungsgruppe unterliegt deutlich mehr Risikofaktoren für Gewalt. Risikofaktoren sind beispielsweise ein geringer Bildungsstand, Armut, Gewalt in der Kindererziehung und Männlichkeitsvorstellungen. Es wandern zudem mehr junge Männer ein als Frauen – das ist sowieso ein Risikofaktor für Kriminalität, unabhängig von der Herkunft.
Welche Maßnahmen schlagen Sie vor?
Ich nehme in der Debatte eine völlige Überbetonung von Kultur wahr: Kultur wird zum einen als unveränderbar dargestellt, zum anderen so, als wären alle Menschen in einem bestimmten Land dadurch gleich. Das ist natürlich Quatsch. Wir sehen ja gerade in Deutschland, das kulturelle Vorstellungen sich ändern. Vor nicht langer Zeit war das Schlagen von Kindern hier ein anerkannter Erziehungsstil. Intervention und Prävention muss auch bei den Eltern ansetzen. Man muss mit ihnen ins Gespräch kommen.
Wir sehen generell – auch bei deutschen Jugendlichen – eine Zunahme von einem Männlichkeitsbild, das eigentlich als überholt gilt. Diese Vorstellungen, wie ein „echter Mann“ zu sein hat, muss besonders in der Präventionsarbeit adressiert werden. Auch bei häuslicher Gewalt spielt das Selbstbewusstsein und angekratzte Ehrgefühle der Täter, unabhängig von der Herkunft, eine riesige Rolle. Wir brauchen mehr Feminismus in der Prävention und eine feministische Kriminalpolitik. Das hilft sowohl Frauen als auch Männern.
Blickt man auf die PKS, könnte man denken: Deutschland wird immer unsicherer.
Das täuscht. Die Straftaten im öffentlichen Raum haben eher abgenommen, Gewalttaten werden meistens hinter verschlossenen Türen begangen. Deutschland ist nicht per se unsicherer geworden, denn die Sicherheitslage kommt sehr auf die Strukturen und das soziale Umfeld an, in dem man lebt. Nicht nur der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger ist beispielsweise erhöht, sondern auch der Anteil nichtdeutscher Opfer.
Sie haben ja den offenen Brief unterschrieben, der die PKS als ungeeignetes Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage bezeichnet. Können Sie das weiter ausführen?
Die PKS zeichnet nicht die Kriminalität in Deutschland ab, sondern die polizeilichen Ermittlungen. Werden Messerverbotszonen erstellt, kontrolliert die Polizei vermehrt und findet auch mehr, mitunter verbotene, Messer. Liegt der politische Fokus gerade auf Shisha-Bars, werden dort mehr Razzien durchgeführt und der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger steigt. Die PKS wird von vielen Verzerrungsfaktoren beeinflusst, was bedeutet: Wir bräuchten eigentlich regelmäßige Dunkelfeldstudien.
Dazu schwankt das Anzeigeverhalten in den Kriminalitätsbereichen sehr: Wohnungseinbrüche bildet die PKS gut ab, weil sehr viele Menschen Einbrüche anzeigen. Bei Sexualverbrechen werden nur ungefähr zehn Prozent der Taten angezeigt.
Die PKS zeigte für das Jahr 2024 trotzdem einen starken Anstieg an Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen.
Das ist auch eine Auffälligkeit. Die Debatte um Sexualdelikte hat sich in der Gesellschaft verändert – womöglich trauen sich mehr Frauen dadurch, Anzeige zu erstatten. Auch diese Vermutung müsste man aber durch eine Dunkelfeldbefragung näher abgleichen.
Zur Person: Gina Wollinger ist Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.