Der Euskirchener Marco Schönecker wohnte damals in der Severinstraße 232, als das Unglück passierte.
Wie er die dramatischen Minuten und Stunden erlebt hat, hat er uns erzählt.
Euskirchen/Köln – An den Bildern klebt Staub. Sie sind verknittert, an manchen Stellen blättert die Farbe ab. Auch die Schwarz-Weiß-Aufnahme, die Marco Schönecker im Kindesalter mit seinem Vater zeigt, ist abgenutzt. Kein Wunder: Sie lagen jahrelang unter Tausenden von Kilo Schutt, Stahl und Beton.
Vier Jahre nach dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs in Köln wurden die Fotos gefunden und dem Euskirchener zugeordnet. „Ich bin noch nie so schnell mit dem Rad irgendwo hingefahren“, erinnert sich Schönecker, der bei dem Unglück am 3. März 2009 am Kölner Waidmarkt vieles verlor – aber nicht seine Lebensfreude.
Marco Schönecker hatte einen Schutzengel
„Ich bin ein Glückskind und einfach nur froh, dass ich nicht zu Hause war“, sagt der Euskirchener, der damals in der Severinstraße 232 wohnte. Etwa 70 Mal habe seine Nachbarin Alex versucht, ihn zu erreichen, um zu erfahren, ob es ihm gut gehe. „Ich war im Unterricht und hatte das Handy auf lautlos gestellt“, sagt der Lehrer am Ehrenfelder Berufskolleg. Dass etwas in der Stadt passiert sein musste, sei nicht zu überhören gewesen. Immer seien Martinshörner zu vernehmen gewesen.
In Erinnerung geblieben sind ihm vom Unglückstag zwei Dinge: Zum einen die professionelle und unaufgeregte Art der Hilfskräfte rund um die Einsturzstelle, zum anderen die Stunden in einem DRK-Bus. In dem mussten alle Anwohner warten, konnten sich aufwärmen und reden.
„Immer, wenn jemand – und wenn ich ihn nur vom Sehen kannte – in den Bus gekommen ist, war eine große Erleichterung zu spüren. Selbst bei denen, die ihn nicht kannten. Das war schon eine besondere Atmosphäre“, berichtet der Euskirchener dieser Zeitung.
Die Eindrücke haben den Lehrer überwältigt
An die Fahrt mit dem Rad quer durch die Stadt vom Berufskolleg in Ehrenfeld bis zur Einsatzstelle kann er sich nicht mehr erinnern. „Die Eindrücke vom Unglücksort habe ich noch im Kopf. Ich dachte nur, gut, dass du da nicht drunter geraten bist.“ Wohnhäuser, die am Morgen, als er sich zur Arbeit aufmachte, noch standen, waren nicht mehr da. „Für uns Anwohner ist das unfassbar“, berichtet der Pädagoge.
Da sein Wohnhaus nach dem Unglück stark einsturzgefährdet war, durfte Schönecker zehn Tage nicht in seine eigenen vier Wände. Er kam nicht an persönliche Dinge wie seinen Laptop oder saubere Kleidung heran. Ein Dach über dem Kopf fand er bei seinen Eltern in Wißkirchen. Von dort aus ging es die nächsten Tage zur Arbeit nach Ehrenfeld. Er habe nur noch arbeiten wollen – bis die Erschöpfung kam. „Die erste Gelegenheit, in die Wohnung zu kommen, habe ich buchstäblich verschlafen“, sagt der 47-Jährige. Die nächste Chance ließ er sich nicht entgehen. Viel mehr als den Laptop und einige wenige Gegenstände nahm er nicht mit – die Angst war einfach zu groß: „Deswegen bin ich auch nicht in den Keller gegangen, obwohl da eine Kiste mit Familienfotos lag.“
Er denke nicht täglich an den 3. März 2009 zurück. Eigentlich nur, wenn er darauf angesprochen werde, sagt Schönecker: „Ich habe das alles gut weggesteckt. Es wäre wohl etwas anderes, wenn ich zu Hause gewesen wäre. Das will ich mir gar nicht erst ausmalen.“ Die Wahrscheinlichkeit sei gar nicht nicht so gering gewesen: „Eine Woche vor dem Unglück hatte ich einen anderen Stundenplan. Demnach wäre ich zum Zeitpunkt des Unglücks eigentlich in der Wohnung gewesen.“ Die beiden Todesopfer habe er nicht gekannt. Zwar sei der 17-jährige Bäckerlehrling Kevin auf das Berufskolleg Ehrenfeld gegangen, doch die Schule sei zu groß, um jeden Schüler zu kennen.
Neben dem 17-Jährigen kam auch der Student Khalil ums Leben. Er hatte sich beim Einsturz des Stadtarchivs in seiner Wohnung an der Severinsstraße aufgehalten. Andere Bewohner, Handwerker, Passanten, Verkehrsteilnehmer sowie Besucher und Mitarbeiter des Archivs hatten sich wie durch ein Wunder retten können.
„Etwas mehr als eine Woche zuvor gingen die Schull- und Veedelszöch da entlang. Ich will mir gar nicht vorstellen, was alles hätte passieren können“, sagt Schönecker. Die Bilder vom Ausmaß des Unglücks habe er erst im Fernsehen und in der Zeitung gesehen.
In den ersten Jahren nach dem Unglück habe er sämtliche Zeitungsberichte aufgehoben. Später habe sein Interesse daran nachgelassen. Den Prozess vor dem Kölner Landgericht habe er nicht verfolgt: „Dabei hatte ich immer im Kopf, dass ich unheimlich viel Glück hatte.“
Der zehnte Jahrestag des Einsturzes wird für Schönecker ein ganz besonderer werden. In sechs Tagen gehen die Kölner Schull- und Veedelszöch durchs Severinsviertel – nur wenige Meter an der Unglücksstelle vorbei. Und der Euskirchener wird mit einer großen Abordnung seiner Schule als Bienen verkleidet am Kölner Waidmarkt vorbeiziehen. „Die erste Gruppe wird sogar eine Schweigeminute abhalten. Davon werden wir als 41. Gruppe nichts mitbekommen, aber es ist ein tolles Zeichen“, sagt der Lehrer, der sich auf den kommenden Sonntag freut.