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Soziales ProjektIn Mechernich mit Pflegekindern wie in einer Familie gelebt

Lesezeit 5 Minuten
Christine Wynen lehnt sich an einen alten Baum auf dem Hof in Katzvey.

Für Christine Wynen beginnt mit dem neuen Jahr auch ein neuer Lebensabschnitt. Der Schritt fällt ihr nicht leicht.

Als ihre Kinder größer wurden, haben Christine Wynen und ihr Mann eine Sozialpädagogische Lebensgemeinschaft gegründet, um mit Pflegekindern wie in einer Familie zu leben.

Die Küche ist groß, warm und gemütlich. Mit einem ausladenden Tisch als Herzstück, wie geschaffen für eine Familie mit vielen Kindern. Tatsächlich leben zurzeit vier Kinder bei Christine Wynen und ihrem Partner Ralf Axer, um genau zu sein, drei Kinder und ein Jugendlicher. Eine normale Familie sind die sechs aber nicht, sondern eine Sozialpädagogische Lebensgemeinschaft. Sprich: Die Kinder können derzeit nicht bei ihren leiblichen Eltern leben.

„Wir haben immer das Konzept Familie gelebt“, sagt Christine Wynen. Ein Konzept, von dem sie sich nun verabschiedet. Zum Jahresbeginn scheidet der Landschaftsverband Rheinland (LVR) als Träger aus, die Schulte-Schmelter-Stiftung steigt ein. Aus dem Familienkonzept wird eine Einrichtung, die eher den Charakter eines Heimes hat.

Zwei Brüder in der Familie zur Pflege aufgenommen

Christine Wynen erinnert sich an die Anfänge. Als sie und ihr damaliger Mann drei Kinder hatten, überlegten sie, eines zu adoptieren, entschieden sich dann aber für ein Pflegekind. Der Junge war zweieinhalb Jahre alt, als er einzog. Kurz darauf erfuhr das Ehepaar, dass es noch einen anderthalbjährigen Bruder gab, der nun ins Heim sollte. „Das konnten wir nicht“, sagt die 50-Jährige. Wie hätten sie später dem Älteren erklären sollen, warum sein kleiner Bruder nicht mit ihm aufwachsen konnte? Die eigenen Kinder waren fünf, sieben und zehn Jahre alt: „Die fünf sahen aus wie die Orgelpfeifen.“

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Mit einem befreundeten Paar kauften die Wynens 2011 einen Pferdehof am Ortsrand von Katzvey. Jedes Paar nahm drei Kinder in Pflege, es entstand gewissermaßen ein kleines Kinderheim. „Wir sind da blauäugig und mit großen Enthusiasmus herangegangen“, urteilt Christine Wynen heute. Das Projekt scheiterte, das andere Paar zog aus.

Mit dem dritten Pflegekind wurde die Situation schwieriger

Das Konzept der Sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft habe sie fasziniert und fasziniere sie bis heute, sagt die gelernte Erzieherin, die mittlerweile auch Motopädin und Traumatherapeutin ist. Obwohl es immer mal Risse gab in der Konstruktion.

Das dritte Kind, ein Mädchen, war sieben Jahre alt, als es in die Großfamilie kam. „Sie hat alles aufgemischt“, erzählt Christine Wynen. Die anderen Kinder hätten sie und ihren Mann Mama und Papa genannt, wohlwissend, dass sie noch eine andere Mama, einen anderen Papa hatten. Die Kleine habe das infrage gestellt, habe den anderen gesagt: „Wieso nennt ihr sie Mama? Ihr wisst schon, dass sie mit euch Geld verdient.“

Der alte Pferdehof liegt direkt am Waldrand.

Auf dem Hof in Katzvey lebt Christine Wynen mit ihrem Partner und derzeit vier Pflegekindern.

Plötzlich habe eine andere Stimmung geherrscht. Und sie habe sich gefragt, ob sie zu weit gegangen sei, sagt Wynen. Ihr sei erst später klar geworden, dass sie ihren eigenen Kindern eine Menge zugemutet habe. Die drei – mittlerweile erwachsen – hätten ihr einmal gesagt, dass sie alles mit den Pflegekindern teilen mussten: ihre Familie, ihr Zuhause, ihre Eltern. Ganz schlimm kann es für sie allerdings nicht gewesen sein. Mittlerweile hätten zwei ihrer Kinder die Absicht geäußert, demnächst in der neuen, größeren Einrichtung mitzuarbeiten.

Längst nicht jedes Kind sei in der Großfamilie angekommen. Ein Mädchen habe wochenlang geweint: „Ich gehöre zu meiner Mama.“ Die Gründe, wegen derer das Jugendamt einschreite, könne ein Kind oft gar nicht verstehen. Christine Wynen weiß: „Nicht nur die Kinder ziehen bei uns ein. Sie bringen ihre Geschichten mit. Und ihre Wunden.“

Nicht nur die Kinder ziehen bei uns ein. Sie bringen ihre Geschichten mit. Und ihre Wunden.
Christine Wynen kümmert sich um Pflegekinder

Sie ist nachdenklich, kritisch, auch was ihr eigenes Konzept angeht: „Wir verkaufen den Kindern Familie, aber letztlich geht das nur in Teilbereichen.“ Ein Mädchen habe es mal auf den Punkt gebracht: „Was ist, wenn es hier brennt? Rettet ihr dann erst eure eigenen Kinder?“ Christine Wynen ist angefasst davon, immer noch: „Ich konnte nicht antworten. Die Frage war zu gut.“

Seit einem Jahr leben nur noch angenommene Kinder auf dem Hof, vier sind es derzeit. Drei weitere werden in den nächsten Monaten einziehen. Vor allem aber sollen auch drei Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen hinzukommen. Bisher wurde Christine Wynen nur von einer Teilzeitkraft unterstützt.

Künftig ein Vier-Tage- statt eine Sieben-Tage-Woche

„Ich muss nicht mehr die Mutter der Nation sein“, sagt sie. Vier-Tage-Woche statt Sieben-Tage-Woche. Sogar geregelter Urlaub. Lächelnd erzählt sie, wie ihr Partner sie gedrängt habe, doch wenigstens einmal eine Woche Urlaub mit ihm ohne die Kinder zu machen. Pech, dass ausgerechnet in der Woche die Flut kam. Sie traf zwar nicht das Wohnhaus, aber setzte den Hof unter Wasser.

Rund 15 Jahre war sie rund um die Uhr für die Kinder da, hat mit ihnen gelebt, wie mit ihren eigenen. Jetzt zieht sie mit ihrem Partner aus dem großen Haus aus. Sie richten sich im Nachbargebäude ein. Einen Durchbruch zum alten Zuhause, in dem die Kinder weiter wohnen, wird es aber geben.

Am großen Küchentisch werden jetzt an drei Tagen der Woche andere Erwachsene sitzen, mit den Kindern essen, reden, spielen, leben, sie nachts trösten, wenn sie aus schlechten Träumen hochschrecken. „Wir haben zugelassen, dass die Kinder Mama und Papa gesagt haben, Oma und Opa. Das würde sich jetzt schräg anfühlen, es wäre nicht mehr ehrlich“, sagt die 50-Jährige.

Der Schritt fällt ihr schwer, auch wenn er logisch und wohlüberlegt ist. Sie habe ihre Rolle als Co-Mutterschaft verstanden. „Ich habe immer geglaubt, ich müsse die Kinder beschützen“, sagt Christine Wynen. „Heute weiß ich, dass ich sie nur durch einen Lebensabschnitt begleiten kann.“


Die Schulte-Schmelter-Stiftung wurde 2008 in Köln gegründet

Der Kölner Unternehmer Hubert Schulte-Schmelter hat sein Vermögen in der Reisebranche verdient. Selbst kinderlos, will er mit seiner Stiftung vor allem traumatisierten Kindern und Jugendlichen „durch familienanaloge Betreuung sowie mit ganzheitlicher und wertschätzender heilpädagogischer Grundhaltung einen entwicklungsfördernden Rahmen bieten“. So steht es im Leitbild der Stiftung.

Sie wurde 2008 in Köln gegründet. Hubert Schulte-Schmelter ist bis heute Vorsitzender des Stiftungsvorstandes. Die Stiftung unterhält Wohngruppen in Frechen und Rösrath, außerdem Sozialpädagogische Lebensgemeinschaften – also Pflegefamilien – in Bornheim, Zündorf und Rösrath.

In Troisdorf gibt es außerdem eine Erziehungsstelle, bei der eine Fachkraft im Haus lebt und sich um junge Menschen kümmert, für die eine Pflegefamilie nicht infrage kommt, die aber in einer größeren Wohngruppe überfordert wären.