Lage bleibt dramatischZwei Monate nach der Flut – Die große Zwischenbilanz
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Zwei Monate ist es nun her, dass die Flut sich durch das Ahrtal, die Eifel und Teile des Rheinlands fraß und ein Bild der Verwüstung hinterließ. Die Anteilnahme war groß. Doch obwohl viele Hände helfen, ist die Lage in den betroffenen Gebieten vielerorts auch heute noch dramatisch. Die Aufräumarbeiten dauern an. Häufig sind die Menschen noch damit beschäftigt, ihre alten Häuser abzureißen und Schutt zu beseitigen, von Wiederaufbau ist häufig noch nicht die Rede. Zudem sind Handwerker und Baumaterial knapp. Und der Winter naht. Dann wird es in vielen Häusern, die zumindest noch teilweise genutzt werden können, in denen aber die Heizung nicht mehr funktioniert, auch noch kalt.
Immerhin Geld können Betroffene seit Freitag beantragen. Der Bund stellt dem Land Nordrhein-Westfalen 12,3 Milliarden Euro für Betroffene der Flutkatastrophe zur Verfügung. Eine Obergrenze pro Kreis gibt es laut Rheinisch-Bergischem Kreis nicht. Das Geld dient dem Wiederaufbau. Laut einer am Montag veröffentlichten Förderrichtlinie können Privathaushalte, Unternehmen und Betriebe für die Land- und Forstwirtschaft sowie Kommunen Förderanträge stellen. Für Privathaushalte besteht die Möglichkeit, online die Förderung zu beantragen.
Im Rheinisch-Bergischen Kreis wurden bislang laut Kreis 3500 Soforthilfe-Anträge gestellt. Wie hoch die beantragte Summe ist, kann der Kreis allerdings nach eigenen Angaben nicht sagen.
Darüber hinaus plant der Rheinisch-Bergische Kreis in Zusammenarbeit mit seinen Städten und Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger bei der Beantragung zu unterstützen. Betroffene können dann mit ihren Unterlagen zu einer Beratung kommen und ihren Antrag gemeinsam mit Expertinnen und Experten ausfüllen. Die Vorbereitungen für den Start des Beratungsangebots laufen derzeit. Geplant sind Beratungsstellen in Leichlingen, Rösrath und Bergisch Gladbach. Das Angebot soll in den nächsten Tagen starten. Der genaue Startzeitpunkt steht noch nicht fest.
In den Kreis Euskirchen sind laut Aussage des Kreises bislang 53,4 Millionen Euro an Soforthilfen geflossen. 13 271 Anträge auf Soforthilfe wurden mit einem Volumen von knapp 28,5 Millionen Euro für Privathaushalte bewilligt. Auch an Unternehmen floss schon Geld: 9,9 Millionen Euro wurden laut Kreis an insgesamt 1689 Firmen ausgezahlt. Zudem sind 15 Millionen Euro vom Land an den Kreis überwiesen worden, die dieser anteilig auf die Kommunen verteilt hat.
4,6 Millionen Euro Soforthilfe für Swisttal
Die im linksrheinischen Rhein-Sieg-Kreis am stärksten betroffene Gemeinde Swisttal hat nach eigener Aussage vom Land Nordrhein-Westfalen eine Soforthilfe in Höhe von 4,6 Millionen Euro erhalten. Insgesamt sind in Rheinbach zehn Millionen Euro abgerufen worden. Zwei Millionen Euro der Soforthilfe des Landes gingen an die Stadt, etwa 6,5 Millionen Euro erhielten Bürgerinnen und Bürger und etwa 1,5 Millionen Euro gingen an Unternehmen.
Von der Soforthilfe des Landes, die an den Kreis ausgezahlt wurde, hat die Stadt Meckenheim 500.000 Euro bekommen. Erwartet werden jetzt in allen Kommunen Gelder aus dem Wiederaufbaufonds.
Im rechtsrheinischen Rhein-Erft-Kreis gehen die Bürgerinnen und Bürger leer aus. Hennef war bereits am 4. Juni vom Starkregen getroffen worden. Eine Bahnunterführung wurde geflutet, zahlreiche Keller standen voll, durch Kindergärten und Häuser rauschten die Fluten. Bürgermeister Mario Dahm (SPD) wandte sich an Ministerpräsident Armin Laschet und bat darum, dass die unbürokratischen Hilfen für die Opfer der Katastrophe vom 14. Juli auch für die Hennefer möglich gemacht würden. Die Anfrage wurde abgelehnt „Wäre mein Haus am 14. Juli von Starkregen und Überflutung getroffen worden, könnte ich Soforthilfe beantragen. Da es mich aber am 4. Juni erwischt hat, kann ich es nicht“, sagte Annette Becker, deren Haus vom Lüppigsbach überschwemmt wurde.
Lernen: Noch 21 Kitas in NRW betroffen
Die Flut hat auch das Leben von Schul- und Kindergartenkinder in NRW und Rheinland-Pfalz stark beeinträchtigt. Schulen und Kindergärten wurden komplett zerstört oder zumindest so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass ein Betrieb nicht oder nur noch eingeschränkt möglich war.
Und auch zwei Monate nach der Flut ist noch nicht alles wie zuvor. Das Familienministerium NRW meldet aktuell rund 216 Kindertageseinrichtungen, die noch durch die Auswirkungen der Flutereignisse betroffen sind. Die Spannbreite reicht von leichten Beschädigungen am Inventar oder Gebäude bis hin zur Abgängigkeit von Gebäuden. Das Ministerium meldet aber, dass vielerorts Übergangs- und Ersatzlösungen gefunden wurden, so dass die Betreuung sichergestellt ist.
Böden, Estriche, Türen nass und unbrauchbar. Mehr als 150 Schulen waren in NRW von der Flut betroffen. Mittlerweile wurden für alle Kinder Ausweichquartiere gefunden. Mit 200 Millionen Euro vom Land sollen die Gebäude saniert werden.
Besonders stolz ist das Schulministerium Rheinland-Pfalz, dass alle rund 7000 betroffene Schüler am ersten Schultag ein Unterrichtsangebot in Präsenz bekommen haben. Teilweise konnten sie zwar nicht ihre eigentliche Schule besuchen, aber immerhin wurden Ausweichstandorte oder Container angeboten. Landesweit wurden rund 40 Schulen von der Flut beschädigt, 17 davon schwer. An acht Schulen hatte die Zerstörung solche Ausmaße, dass an den Standorten vorerst kein Schulbetrieb möglich ist, diese Schülerinnen und Schüler wurden am ersten Schultag auf insgesamt 19 aufnehmende Schulstandorte verteilt.
Auch eingeschränkt ist weiter der Betrieb der Kindertagesstätten im Ahrtal. 14 Kitas landesweit sind sehr stark beschädigt, insgesamt haben rund 60 Kitas Schäden von der Flut davongetragen – einige können zunächst nur im Notbetrieb mit begrenzten Betreuungszeiten arbeiten. (gmv)
Kliniken: Schäden in Millionenhöhe
Stromausfall, überflutete Zimmer, Tausende Patienten, die plötzlich evakuiert werden müssen. An den Kliniken in NRW und Rheinland-Pfalz richtete die Flut Schäden in gigantischer Höhe an. Allein am Klinikum Leverkusen belaufen sich die Schäden nach ersten Schätzungen auf 40 Millionen Euro. Davon sind laut Arbeitsminister Hubertus Heil nur 15 Millionen Euro von Versicherungen gedeckt.
Mittlerweile sind in Leverkusen 515 Betten von insgesamt 740 Planbetten wieder belegt, beziehungsweise wieder belegbar. Ende Oktober soll ein weiteres Bettenhaus mit 125 Betten wieder eröffnen, im Dezember ein Neubau mit Kreißsaal sowie drei Herzkathetern eröffnet werden, im ersten Quartal 2022 ist geplant, die Kinderintensivstation in Betrieb zu nehmen.
Schlechter sieht es im St. Antonius Hospital Eschweiler aus. Hier haben die Stationen noch geschlossen, aber immerhin können Patienten wieder ambulant versorgt werden. Das Marien-Hospital Erftstadt ist noch gar nicht einsatzfähig.
Im Ahrtal sind vier Klinikorte noch immer nicht einsatzfähig, Für drei Kliniken konnten Teile des Betriebs aber an Ausweichorten wieder aufgenommen werden. Lediglich das Klinikum Maria Hilf Bad Neuenahr ist wieder am ursprünglichen Standort voll einsatzfähig.
Arztpraxen: Jede Dritte ist einsatzfähig
Auch die ärztliche Versorgung hat die Flut in einigen Regionen in NRW und Rheinland-Pfalz arg in Mitleidenschaft gezogen. Die drängendste Frage seit zwei Monaten: Wie können die Patientinnen und Patienten versorgt werden, wenn die Praxis nicht mehr existiert? Viele Ärzte haben sich von Beginn an via Chat organisiert, die Bundeswehr lieferte kistenweise Medikamente, an der Ahr wurden Patienten zwischenzeitlich in einem umgebauten Bus der Deutschen Bahn versorgt, einige Ärztinnen und Ärzte praktizierten von zu Hause aus, in Containern und Altenheimen. Zum Teil mit nicht viel mehr ausgestattet als einem Rezeptblock und einem Stethoskop.
In NRW ist von 141 betroffenen Praxen aktuell nach Aussage der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein immerhin ein gutes Drittel wieder voll einsatzfähig, zudem jede siebte im Notbetrieb. 24 Praxen arbeiten aus einer Zweigpraxis heraus. Ein knappes Drittel kann aber weiterhin gar kein Angebot an ihre Patienten machen.In Rheinland-Pfalz sind die Verhältnisse etwas schlechter, die Aufräumarbeiten nehmen mehr Zeit in Anspruch. Von 49 stark betroffenen Praxen sind laut Kassenärztlicher Vereinigung Rheinland-Pfalz 34 immer noch komplett funktionsunfähig, nur jede Dritte ist mittlerweile zumindest teilweise wieder im Einsatz. (don)
Bahn: Erst 2023 wieder alles nutzbar
Die Bahn verzeichnet nach der Flut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Schäden an 50 Brücken, 180 Bahnübergängen, knapp 40 Stellwerken und mehr als 1000 Oberleitungs- und Signalmasten. Überdies sind Hänge und Dämme weggerutscht, Energie- und Beleuchtungsanlagen in den Bahnhöfen zerstört worden.Die Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten laufen weiter auf Hochtouren. Bis zum Jahresende sollen 80 Prozent der Strecken wieder befahrbar sein. Bis zum Sommer 2023 sollen dann auch auf den restlichen 20 Prozent zumindest wieder Züge unterwegs sein.
In NRW plant die DB, den Verkehr zwischen Euskirchen und Mechernich bis zum nächsten Frühjahr wieder aufzunehmen. Der Abschnitt bis Kall soll bis zum Sommer 2022 folgen. Zwischen Kall und Nettersheim wird dann bis Sommer 2023 die Strecke erneuert.
Auf der Ahrtalbahn werden die Züge auf einem Gleis zwischen Remagen und Walporzheim zum Jahresende wieder fahren. Im weiteren Verlauf müssen bei Ahrbrück zwei eingestürzte Brücken abgerissen werden. Prognosen zur Wiederinbetriebnahme sind für diesen Bereich ebenso wie für die Strecken Euskirchen – Bad Münstereifel (Erfttalbahn) sowie Rheinbach – Euskirchen (Teilstrecke der Voreifelbahn) noch nicht möglich. (pb)
Das läuft gut
Die Solidarität. Das ist wohl der hauptsächliche Lichtblick nach der Flutkatastrophe. Nachbarn packen mit an, Helfer kommen von überall angereist, Menschen spenden, es gibt Ponyhöfe in Bayern, die erschöpften Familien kostenfrei Reiterferien ermöglichen. In Erftstadt berichtet man von einem hohen Aufkommen an Sachspenden. Küchen, Spielzeug, Kleidung, Fahrzeuge. Die Stadt verteilt an die Bürgerinnen und Bürger insgesamt 6,7 Millionen Euro Spendengeld. Rund 340 000 Euro wurden bereits ausgezahlt. Das Bürgerforum Blessem verteilt aus seinem Spendentopf zudem 200 000 Euro – und zwar nach einem ganz bestimmten Verteilungsschlüssel.
Die allermeisten gefluteten Gebäude in Erftstadt sind inzwischen komplett geräumt. Der Krater am Blessemer Ortsrand ist kaum noch zu erkennen. Das Areal soll langfristig als hügeliges Naherholungsgebiet samt See und Versickerungsbecken gestaltet werden.
In Bergisch Gladbach und Rösrath lobt man lokale Spendeninitiativen, die von öffentlicher Seite koordiniert wurden. In sämtlichen betroffenen Kommunen sowie in den politischen Gremien des Kreises hat ein Umdenken eingesetzt. Insbesondere sämtliche künftige Bebauungsoptionen für Auenflächen sollen auf den Prüfstand und möglichst vermieden sowie zusätzliche Präventionsmaßnahmen getroffen werden. Gerade ist auch eine Starkregenkarte für den Kreis fertig geworden, die die Gefährdung an jeder Stelle im Kreisgebiet ausweist.
In Lohmar will man sechs Jahre alte Pläne umsetzen und die Agger renaturieren. Das alte Campingplatzareal soll als Retentionsraum genutzt werden, der Fluss soll mäandern und einen Altarm bilden. Der Fluss fließt langsamer, der Pegel schwillt nicht mehr so hoch an.
Das läuft schlecht
Zwei Monate nach der Flutkatastrophe steckt der Wiederaufbau im Kreis Euskirchen bestenfalls in den Kinderschuhen. Erst ganz vereinzelt sind Geschäfte wieder geöffnet oder Hausbesitzer schon mit den Sanierungsarbeiten beschäftigt. Nicht einmal die Abbrucharbeiten sind an vielen Orten beendet. Es wird noch Wochen und Monate dauern, bis mit dem Wiederaufbau überhaupt begonnen werden kann. Für diejenigen, die nicht versichert sind, ist entscheidend, in welcher Höhe sie mit staatlicher Finanzhilfe beim Wiederaufbau rechnen können. Und wenn die Finanzierung steht, ist längst nicht alles auf einem guten Weg. Die Hausbesitzer müssen dann zunächst hoffen, dass es genügend Handwerker gibt, die Arbeiten übernehmen können.Außerdem wird es bald kalt, der Winter kommt. Nicht alle, die in ihren beschädigten Häusern wohnen, werden es schaffen, rechtzeitig die Heizung ersetzt zu bekommen. Sie werden sich mit elektrischen Heizgeräten behelfen müssen.
Auch in den Kommunen Rheinbach und Swisttal sind die Aufräumarbeiten nicht frei von schlechten Nachrichten. Eine Grundschule und ein Dorfhaus, mehrere Sportanlagen sowie Teile des Rathauses können weiter nicht genutzt werden. Auch acht Wochen nach der Flut sackt immer wieder irgendwo die Straße ab, weil sich Hohlräume gebildet haben. Sofern der Winter Frost bringt, rechnet die Verwaltung mit weiteren Schäden.
Als unzureichend beschreiben rheinisch-bergische Flutopfer in Hoffnungsthal die Kommunikation durch die Stadt Rösrath. Bei einer Diskussion zur Ursachenanalyse vom Verein „Lebenswertes Sülztal“, gab es keinen offiziellen Beitrag der Stadt. Inzwischen hat sie aber eine Infoveranstaltung für Ende Oktober angekündigt.