Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, sah sich unter dem Bayer-Kreuz um.
Besuch von Nicolas SchmitWas man im Chempark Leverkusen von der Europäischen Union erwartet
„Chemie ist absolut notwendig.“ Für diese Erkenntnis hätte Nicolas Schmit wahrscheinlich nicht nach Leverkusen reisen müssen. Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte nahm sich am Freitag fast den ganzen Tag, um sich unter dem Bayer-Kreuz umzusehen und das Gespräch zu suchen mit hochrangigen Leuten. Zu ihnen zählte der Chef von Bayers Aufsichtsrat, Norbert Winkeljohann, aber auch Vertreter der Pharma- und der Agrochemie-Sparte, Currenta-Chef Tim Hartmann und natürlich Betriebsräte. Schließlich ist Schmit Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl – da versteht sich die Nähe zu den Beschäftigten von selbst.
Der Luxemburger bemühte sich aber auch, als Industriepolitiker rüberzukommen. Ein Europa ohne industriellen Kern sei chancenlos in der Welt; deshalb müsse ihr das besondere Augenmerk gelten. Unter dem Bayer-Kreuz ist das inzwischen gleichbedeutend mit dem Fokus auf Energie und ihren Preis.
Currenta will die Energiewende – aber sie ist teuer
Ein Problem, wie sich in der nachmittäglichen Podiumsdiskussion im Bay-Komm schnell zeigte. Der Chempark-Betreiber Currenta ist als Lieferant von Dampf und Strom stark unter Druck, da ließ sein Chef Tim Hartmann keinen Zweifel. Im Moment setzt Currenta weitgehend noch auf Kohle, später soll es elektrisch werden. Gas spiele auch eine Rolle, als Brücke zu Wasserstoff, berichtete Hartmann. Aber: „Ich kann das rechnen, wie ich will: Es wird teurer für unsere Kunden.“ Und die sind als Großverbraucher vom Schlage Lanxess oder Covestro natürlich empfindlich. Um dem EU-Kommissar eine Hausmarke zu geben: In den drei Chemparks am Rhein werde ein Prozent der Energie in ganz Deutschland verbraucht, so Hartmann.
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Im internationalen Wettbewerb, ergänzte der Currenta-Chef, stehe Deutschland ganz schlecht da: In Kanada koste Energie rund ein Drittel, übrigens weitgehend erneuerbar. Der „deutsche Alleingang“ frustriere die energieintensive Industrie; da müsse in der EU besser zusammengearbeitet werden. Ob es unter einem Kommissionspräsidenten Nicolas Schmit eine europäische Energiepolitik gebe, wollte Hartmann wissen. Die Antwort des Politikers war kurz: „absolut“.
Zu der gehörten ganz sicher auch Änderungen in der Besteuerung. Und – wohl beim Aufbau Energiewende-tauglicher Netze – „öffentliche Investitionen“. Mit Blick auf die Effekte, die der russische Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat, gab sich Schmit zerknirscht: „In der Krise war der europäische Energiemarkt eine Katastrophe.“
Frank Terhorst, der sich in Bayers Agrochemie-Sparte Crop Science um Strategie und Nachhaltigkeit kümmert, sprach andere Themen an. Der von der EU-Kommission ausgerufene „Green Deal“ sei zwar „wichtig und richtig, muss aber ergänzt werden“, findet er. Innovationen müssten leichter in den Markt kommen. Außerdem müsse „Technologieoffenheit“ auch auf dem Acker gewährleistet sein. In Europa werde zu viel reguliert, das führe zu Abwanderung.
Die Brüsseler Bürokratie ist ein Hemmschuh, sagt der EU-Kommissar
Schmit gab sich auch auf dem diesem Feld lernwillig. Es sei nicht zu verkennen, dass Europa „nicht besonders gut“ sei beim Transfer von Forschungsergebnissen in neue Produkte. In manchen Unternehmen liege das vielleicht auch an einem Mangel an Investitionen – auf den Bayer-Konzern treffe das aber ganz sicher nicht zu. Allen forschenden Unternehmen mache indes die Bürokratie zu schaffen – da müsse man in Brüssel womöglich die Perspektive wechseln.
Das gelte – in abgeschwächter Form, so Schmit – auch bei einem Thema, das der Bayer-Personalerin Lorraine Schweitzer unter anderem auf den Nägeln brennt: die Anerkennung von Bildungsabschlüssen bei Menschen, ob sie nun aus der EU kommen oder nicht. Da würden viele Chancen vertan, obwohl Europa ohne Einwanderung von qualifizierten Menschen auf dem absteigenden Ast sei. Schweitzer setzte sich – wie auch Bayers Azubi-Vertreter Luca Schneider – für eine umfassendere Betrachtung von Fähigkeiten ein. Nur so könne man dem Fachkräftemangel begegnen.
Ein Punkt, dem Schmit vorbehaltlos zustimmte. Der EU-Kommissar, zu dessen derzeitigem Ressort neben Beschäftigung auch soziale Rechte gehören, befand: „Wir ziehen nicht genug Talente an.“ Das ließe sich verbessern, wenn „wir bei der Anerkennung von Abschlüssen die Prinzipien des gemeinsamen Markts anwenden würden“. Den gibt es schon seit mehr als 30 Jahren, nämlich seit 1993. Da war Nicolas Schmit noch Staatsrat in Luxemburg.