Leverkusen – Bis zum 14. Juli 2021, dem Tag des verheerenden Hochwassers im Rheinland, hat niemand wirklich gedacht, dass es jemals so schlimm kommen könnte. Aber kam es dann doch. „HQ Extrem“, diesen Begriff benutzen Fachleute für Hochwasser, die deutlich seltener als einmal in 100 Jahren auftreten sollen. Also in historischen Abständen.
Es steigt dann aber eben auch extrem hoch, auf die Kölner Pegelmarke 12,90 Meter (1995: 10,69 Meter). Wohlgemerkt nach bisheriger Einschätzung – denn von der Gültigkeit der Annahmen zur Häufigkeit solcher Katastrophen ist man jetzt nicht mehr überzeugt. Die Klimaerwärmung schafft neue Wahrscheinlichkeiten. Glaubt man den Hochwasserexperten, könnte eine so unwahrscheinliche Flut, ähnlich der im Sommer, nicht nur an Wupper, Ahr, Sülz und Wiembach kommen. Analoge Berechnungen gibt es auch für den Rhein. Sehr lange hat es im größten Strom Deutschlands kein derartig katastrophales Hochwasser mehr gegeben.
Alte Flussarme führen dann wieder Wasser
Vielen, die heute in gefährdeten Bereichen leben, dürfte gar nicht klar sein, dass es für sie in ihrem Haus sehr gefährlich werden könnte, denn die Deiche würden nichts mehr abhalten.
Die Hochwasserkarten der Landesministerien zeigen die vorherberechneten Wassertiefen in abgestuften Blauschattierungen. Je dunkler das Blau, desto tiefer ist das Wasser an der überfluteten Stelle.
In den Karten zeigen sich die Verläufe alter Rheinarme aus der vorindustriellen Zeit, als der Strom noch frei durch sein Urstromtal mäandern konnte. Diese langgestreckten Niederungen sind heute trocken. Ein extremer Wasserstand würde das Rheinland in Zeiten vor jeder Begradigung und Flussregulierung zurückversetzen, denn der Rhein schwappt dann in diese alten Flussarme.
Folgen für Leverkusen wären extrem
Die Folgen für Leverkusen wären extrem, kaum zu berechnen. Arbeitet man sich auf den Karten von Süden her durch die Stadtteile, fällt auf, dass bei einem „HQ Extrem“ selbst die neue Feuerwehrzentrale am Kurtekotten über zwei Meter tief und auch Teile des Chemparks überflutet werden würden.
Betroffen wäre vor allem der Bereich um Tor 8, wo etwa Tanks stehen und die Rohrleitungen aus Dormagen ins Werk münden, darunter die gefährliche Kohlenmonoxid-Leitung. Zwar will man im Chempark die mobile Spundwand aus Aluminium verbessern, aber das Wasser kommt von hinten: durch einen alten Arm, der weit vor der Kölner Innenstadt in Porz-Westhoven vom Rhein abzweigt, um Deutz herum läuft und von hinten das Wasser bringen würde.
Die heute allenfalls als flache Niederung wahrnehmbare Flussschleife führt in Leverkusen erst durch den Kurtekotten und trifft genau auf den Platz der neuen Feuerwehrzentrale. Die Hauptfeuerwache, schreibt eine Stadtsprecherin auf Anfrage, könne trotz allem funktionsfähig bleiben. Leitstelle und Technik seien oben in der Wache untergebracht. Die Fahrzeuge könnten an andere Standorte verlegt werden.
Etwa bei Tor 8 an der Rheinallee mündet der Porzer Nebenarm in den Hauptstrom; es ist kein Zufall, dass die dortigen Bayer-Parkplätze und die Hauptstraße zu den Stellen in Leverkusen gehören, die bei Starkregen als erste überflutet werden.
Desaster rund um die Sondermüllverbrennung
Keine gute Aussicht, eher ein Desaster wäre, dass im Falle eines Extremhochwassers das gesamte Entsorgungszentrum mit der Sondermüllverbrennung einschließlich der Lagerplätze für Abfälle, Tanks und Kläranlage zwischen ein und vier Meter tief im Wasser stehen würden. Der Müllofen steht auf etwa 50 Meter über Meereshöhe ziemlich tief in der Dhünnaue. Der Deponieberg würde aus den Wassermassen herausragen.
Die meisten Anwohner in Bürrig hätten aber vermutlich eigene Probleme, denn der Stadtteil liegt so, dass an der niedersten Stelle an der Rheindorfer Straße das Wasser dann schon vier Meter hoch stehen würde. Grob gesagt wäre der Bereich westlich des Entenpfuhl und Heinrich-Brüning-Straße überflutet.
Sofern die Wupper kein extremes Hochwasser führen würde, bliebe Opladen trocken. So gut wie das gesamte südliche Rheindorf und weite Teile Hitdorfs, der Paeschke-Siedlungen und der umgebenden Felder würden von einem Extremhochwasser überschwemmt, da hülfe auch die mobile Hochwasserwand der TBL (Technische Betriebe Leverkusen) am Hafen nichts. Lediglich um die Katholische Kirche und im Norden am Heerweg und um die Gaststätte „Auf'm Lohr“ würden Flecken wie letzte Inseln aus dem Wasser ragen.
Alter Rheinarm rund um Hitdorf
Der Grund: Um Hitdorf herum verläuft auch ein alter Rheinarm. Er beginnt in Rheindorf bei der heutigen Wuppermündung. Auf dessen Grund lagerte sich Kies ab, den man aus Baggerlöchern gefördert hat; die Seen sind Überbleibsel dieser Rheinschleife. Im Namen des Orts Voigtslach ist sie verewigt.
TBL-Chef Wolfgang Herwig ist ein Fachmann für Wasser und Siedlungen. Er sagt: „Das Ereignis vom 14. Juli hat unsere Sicht auf Extremhochwasser geändert. Wir haben gedacht, dass es so selten ist, dass das nie jemand erleben muss, aber jetzt ist es an Ahr und Wupper doch dazu gekommen“.
Experte: „Wir werden das bekommen“
„Wir werden das irgendwann einmal bekommen. Es wird dann nur noch darum gehen, wie man die Leute da herausbekommt, aber die Feuerwehr glaubt nicht daran, dass es möglich wäre, das Gebiet zu evakuieren“, sagt Herwig. Immerhin sei mit einer längeren Vorwarnzeit zu rechnen, sagt der Experte.
Für ein solches Extremhochwasser müssten gigantische Wassermassen im großen Einzugsgebiet des Rheins auf einen schon Feuchtigkeits-gesättigten Boden fallen. Vorstellbar sei etwa ein ergiebiges Regengebiet, das synchron mit der Hochwasserwelle Richtung Norden ziehen würde, sagt Herwig.