Köln/Düsseldorf – Die Veranstaltung im Kölner Bankhaus Merck Finck dauert bereits weit über eine Stunde, da wird Christian Lindner noch einmal grundsätzlich. „Wir brauchen eine Mentalitätsreform. Das ist vielleicht die wichtigste Reform, über die wir reden müssen. In unserem Land erntet ein Unternehmensgründer Hohn und Spott, wenn er scheitert. Wir sollten dahin kommen, dass ein Gründer keine Angst vorm Scheitern mehr haben muss“, sagt der FDP-Vorsitzende. Wie viele seiner Zuhörer realisieren, dass Lindner gerade auch über sich selbst gesprochen hat, bleibt unklar.
Lindner wirbt wo es nur geht für seine Herzensangelegenheit
Zwei Wochen später auf dem Gelände des Stahlwerks in Düsseldorf, einer Veranstaltungshalle auf dem Gelände der früheren Mannesmann Röhrenwerke: Lindner ist Gast beim German.Venture.Day. Alles dreht sich um die Start-up- und Venture-Capital-Szene. Die Halle ist auf modern und innovativ getrimmt. Alle sind per „Du“, von der Decke hängen Discokugeln, und an den Wänden präsentieren Unternehmen ihre Ideen. Hier treffen Anzüge auf Umhängetaschen und Sneakers auf Hochsteckfrisur. Die Szene betritt der FDP-Chef fast unbemerkt. Er spricht nach rechts und links, begrüßt junge und alte Leute.
Auch dort wirbt Lindner für seine Herzensangelegenheit: die Gründerkultur in Deutschland. Für den Wunsch seiner Partei, eine andere Gründerkultur zu schaffen, eine, in der gewagt und gescheitert werden darf. Noch während seines Studiums in Bonn hatte der in Wermelskirchen aufgewachsene Lindner in der Euphorie des New-Economy-Booms zur Jahrtausendwende mit Kompagnons und staatlichem Wagniskapital eine Firma gegründet. Erfolglos. Er muss sich dafür auch anderthalb Jahrzehnte später noch bissige Bemerkungen gefallen lassen. So wie im Februar 2015, als der glänzende Rhetoriker einen hämischen Zwischenruf eines SPD-Abgeordneten im Landtag zu einer wütenden Replik nutzte.
„Welchen Eindruck macht so ein dümmlicher Zwischenruf wie Ihrer auf irgendeinen gründungswilligen Menschen?“, rief er in sein Mikrofon und nahm sich den SPD-Mann so gekonnt zur Brust, dass die Aufnahme seines Auftritts im Internet ein Hit wurde und ihm viele Sympathien einbrachte. Lindner hat nicht nur mit solchen Auftritten die Partei in NRW aus dem Quotentief herausgeholt. Die Partei ist voll auf ihre Lichtgestalt fokussiert. In NRW bedauern viele Liberale, dass der Chef der „Einmannpartei“ nach der Bundestagswahl zurück nach Berlin wechseln will. Er hinterlässt große Fußstapfen. Selbst seine Gegner bescheinigen Lindner, ein Ausnahmetalent zu sein.
So wie damals im Landtag spricht der – seit 2011 verheiratete – Lindner bei öffentlichen Auftritten fast immer frei.
Lindner erweitert sein Lied um eine sozialpolitische Strophe
Inhaltlich bietet Lindner bekannte FDP-Positionen, erweitert aber das liberale Hohelied vom freien Unternehmertum, das der Staat zu fördern habe, um eine sozialpolitische Strophe, in der er fordert, die Zuverdienstgrenzen für Arbeitslose zu erhöhen, um damit deren Eigeninitiative zu ermutigen. Wo sein Vor-Vorgänger Guido Westerwelle vor allem immer „Freiheit von“ staatlichen Eingriffen meinte, wenn er für Steuersenkungen warb und damit den Nerv der Zeit nicht traf, wirbt Lindner für „Freiheit zu“: Freiheit, sich selbst zu entfalten, nötigenfalls mit staatlicher Unterstützung.
Anders als viele Landtagspolitiker ist Lindner auch in den sozialen Medien präsent – auf Facebook folgen ihm mehr als 110 000 User, auf Twitter mehr als 90 000. Und er versteht diese Kanäle auch für einen selbstironischen Umgang mit der eigenen Eitelkeit zu nutzen, die bei dem 38-jährigen FDP-Chef durchaus eine Antriebsfeder ist. 2013, das Haupthaar war bereits etwas schütter, ließ Lindner sich Haare transplantieren. Er bekannte sich dazu auf Twitter: „Um es mit Jürgen Klopp zu sagen: Ich finde, das Ergebnis ist ganz cool geworden, oder?“
Im Wahlkampf, auf den Plakaten zumal, trifft man auf den ernsten Lindner, den Machertypen. Und solche Typen verstehen keinen Spaß, wenn man ihnen ihre teuren Hobbys madig macht. Für Lindner ist das der Porsche, den er seit langem besitzt. In Düsseldorf mokiert er sich über Leute, die ihm das Auto neideten, als er es sich zulegte – und erntet Zustimmung. Ob die Arbeitslosen, die Hartz-IV-Empfänger, die Lindner vorgeblich ebenso am Herzen liegen wie die jungen Gründer, mit diesem Beispiel für Sozialneid etwas anfangen können, ist eine andere Frage.