Giftmord in HürthSpritze in der Jackentasche – War ein weiterer Mord geplant?
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Im Fall der Giftanschläge von Hürth kam es zu medizinischen Fehldiagnosen. Auch Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden wurden offenbar.
Der mutmaßliche Täter sitzt in Haft und gibt den Unwissendenden.
Die Anklage lautet unter anderem auf Mord und versuchten Schwangerschaftsabbruch.
Hürth – Der Tatverdächtige gibt im Verhör nach seiner Festnahme den Unwissenden: Von Thallium, einem Schwermetall, will er noch nie etwas gehört haben. Vehement streitet Andreas Sieger (Name geändert) ab, seine zweite Ehefrau nebst der Großmutter seiner aktuellen Partnerin mit dem hochtoxischen Stoff ermordet zu haben. Auch weist er Vorwürfe zurück, dass er seine schwangere Freundin ebenfalls vergiftet haben soll. Er sei gar nicht dazu fähig, einen Menschen zu töten, beteuert der Hygienetechniker.
Als ihn die Todesermittler im Kölner Polizeipräsidium mit den brisanten Funden bei der Durchsuchung im Haus in Hürth am 30. November 2021 konfrontieren, sucht Sieger nach Ausflüchten. Die Dose Thallium, die sich in seiner Jacke findet, vermag er nicht schlüssig zu erklären. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Justizkreisen erfahren hat, räumt der Beschuldigte einzig den Besitz einer aufgezogenen Spritze mit Kaliumchlorid ein.
In hoher Dosis injiziert handelt es sich ebenfalls um ein todbringendes Mittel. Der Stoff führt umgehend zum Herzstillstand. Für die Rechtsmediziner ist ein Mord per Kaliumchlorid zudem schwer nachzuweisen. Folglich hegen die Strafverfolger den Verdacht, dass der inzwischen inhaftierte Angestellte des Fliedner-Krankenhauses in Ratingen mit der Spritze ein weiteres Mordkomplott zu Ende bringen wollte: Seine schwangere Freundin, die seinen ersten Anschlag mit Thallium noch überlebt hatte, sollte mutmaßlich durch die Kaliumchlorid-Spritze sterben. Dies legen die Ermittlungen der Kölner Polizei nahe.
Die Anklage umfasst Mord, Mordversuch und versuchter Schwangerschaftsabbruch
Inzwischen wurde Andreas Sieger angeklagt. Der Prozessauftakt ist wohl für den Herbst geplant. Es geht um zweifachen Mord nebst Mordversuch sowie einen versuchten Schwangerschaftsabbruch durch Gift. Der Fall steht für ein abnormes Verbrechen, das auch Fehldiagnosen der Medizin und Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden offenbart. Martin Bücher und Mutlu Günal, Verteidiger des Angeklagten, weisen auf die Unschuldsvermutung hin. „Unser Mandant wird sich weiterhin schweigend verteidigen. Wir gehen von einem langwierigen Indizienprozess aus.“
Die Beweiskette wirkt indes schlüssig. Auch deutet die Vita des Angeschuldigten den Ermittlungen zufolge auf ein bizarres Doppelleben hin. Über Samenspenderplattformen knüpft Sieger spätestens seit 2020 insgeheim Kontakte zu Frauen, die sich von ihm ein Kind wünschen. Dabei benutzt er den Aliasnamen „Thomas Meinhard“. Aus einer Beziehung geht eine Tochter hervor, zu der der Vater aber keinen Kontakt aufnimmt.Die Polizei registriert bei ihren Nachforschungen Kontakte zu 37 Frauen. Manche Liaison soll der gelernte Krankenpfleger neben der Beziehung zu seiner schwangeren Freundin weitergeführt haben. Seine Anwälte wollen hierzu keine Stellung nehmen.
Was über den mutmaßlichen Mörder bekannt ist
Wer ist der Mann, der mutmaßlich zwei Frauen kaltblütig ermordete? Andreas Sieger wächst in einem gut situierten Elternhaus auf. In Solingen macht er sein Abitur. Nach dem Zivildienst will er Pilot werden, scheitert aber an der Aufnahmeprüfung. Zweimal bricht er ein Studium ab, bevor er 2010 eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert.
Häufig wechselt er in jener Zeit seine Beziehungen. 2011 heiratet der junge Mann zum ersten Mal, die Ehe wird drei Jahre später geschieden. Über die Dating-Plattform „parship.de“ lernt Sieger seine zweite Frau kennen. Mit Manuela N. (Name geändert), einer Lehrerin, erwirbt er ein Haus in Leverkusen. Die Hochzeit findet 2017 statt. Drei Jahre vergehen, ehe Sieger Ende April 2020 den Ermittlern zufolge über die Adresse seines Arbeitgebers 25 Gramm Thallium bestellt. Dieses Gift wirkt schleichend. Bei den Patienten stellen sich binnen zwei Wochen massive Symptome ein. Haare fallen aus, im Endstadium leidet das Opfer unter fürchterlichen Schmerzen, ehe der Tod eintritt. So geschehen bei der zweiten Ehefrau.
Mitte Mai 2020 muss Manuela N. in ein Krankenhaus in Leverkusen eingeliefert werden. Schmerzen am ganzen Körper setzten ihr zu. Lähmungserscheinungen verschlimmern ihren Zustand. Schließlich wird sie nach künstlicher Beatmung in die Düsseldorfer Uni-Klinik verlegt. Dort stirbt die Pädagogin am 29. Mai 2020. Weder Polizei noch die Ärzte stellen jedoch eine Thallium-Vergiftung fest, vielmehr tippen sie auf das so genannte „Gullian-Barré-Syndrom“. Eine Autoimmunkrankheit, die zu Lähmungserscheinungen führen kann. Niemand hegt seinerzeit gegen Andreas Sieger einen Verdacht. Zumal der die Rolle des tief trauernden Witwers einnimmt.
Die Finanzermittlungen ergeben allerdings, dass der mutmaßliche Mörder vom Tod seiner Frau profitierte. Er ist Alleinerbe, erhält das Haus in Leverkusen, vermietet es für knapp 1700 Euro, kassiert Lebensversicherungen seiner verstorbenen Frau und weitere Gelder in fünftstelliger Höhe.
Intensive Online-Recherche zu Gift
Bald sucht der Angeklagte auf Dating-Plattformen wie „familyship.org“ nach einer neuen Partnerin. Drei Monate nach dem Tod seiner zweiten Frau macht er wieder die Bekanntschaft einer Lehrerin, Ende November 2020 zieht das Paar zusammen.
Sieger lernt auch die Großmutter seiner neuen Freundin kennen. Waltraud N. (Name geändert) lebt mit 92 Jahren immer noch in ihrem Haus in Hürth. Im März 2021, so die Staatsanwaltschaft, soll der Angeklagte einen neuen Mordplan gefasst haben. Plötzlich beginnt die alte Frau über Durchfall zu klagen, binnen Tagen verfällt die rüstige Seniorin. Waltraud N. kommt aus dem Bett nicht mehr hoch, beginnt vor Schmerzen laut zu schreien, wenn sie auch nur jemand leicht berührt. Am 1. April 2021 verstirbt die Rentnerin. Niemand aber schöpft Verdacht, dass sie vergiftet wurde.
Kurz darauf bezieht die Enkelin mit ihrem neuen Partner das Haus ihrer verstorbenen Großmutter in Hürth. Mitte August 2021 wird die Lehrerin schwanger. Einen Monat später beginnen sich bei ihr die gleichen Symptome bemerkbar zu machen, wie bei Waltraud N..
Während ihr Partner sie fürsorglich im Krankenhaus betreut, gibt er bei Google Suchbegriffe wie „Thallium Schwangerschaft“ ein. Gleich dutzendfach klickt er auch das Thema Kaliumchlorid an. Zuletzt durchforstet er eine Diplom-Arbeit mit dem Titel „Vergiftung und Toxine, Auswirkungen in Schwangerschaft und Stillzeit“.
Derweil verschlechtert sich der Zustand seiner schwangeren Partnerin zusehends. Mitte November 2021 wird die Patientin zeitweilig bewusstlos. Schließlich muss sie künstlich beatmet werden. Am 26. November stellen die Ärzte eine Thallium-Vergiftung fest und verabreichen ein Gegenmittel.
Die Mutter des Opfers sucht daraufhin die Polizei auf. Zu gut erinnert sie sich noch an die Erzählungen ihres Schwiegersohnes in spe. Der hatte in Gesprächen offen über die Symptome seiner verstorbenen zweiten Frau gesprochen. Merkmale, die sich mit dem Zustand ihrer Tochter decken. Die Ermittler nehmen den Hinweis ernst und stürmen das Haus in Hürth. Dabei finden sich die Giftmittel in einer schwarzen Jacke des Tatverdächtigen.
Nach wie vor bleibt das Mord-Motiv unklar. Zwar hat der Angeklagte auch die Konten seiner schwangeren Partnerin so umgelenkt, dass ihm gut 65.000 Euro aus Krankenkassenzuschüssen zukamen, aber das sind Indizien, mehr nicht.
Da Andreas Sieger bislang nach dem ersten Verhör schweigt, rätseln die Strafverfolgungsbehörden immer noch, wie er seinen Opfern das Thallium mutmaßlich verabreichte und was das Motiv der Taten gewesen sein könnte.
Inzwischen hat seine genesene Ex-Partnerin laut Kölner Staatsanwaltschaft ihr Kind zur Welt gebracht. Bisher seien keine bleibenden Schäden festgestellt worden, hieß es. „Wir hoffen, dass es so bleibt.“