Kerpen – Bei dem 64-jährigen Quadrather kamen dabei auch Erinnerungen an einen anderen „schlimmen Fall“ beim Nörvenicher Boelcke-Geschwader hoch, an den „auch mal erinnert werden müsste“: Der 20-jährige Wehrpflichtige Wilhelm Corsten war am Abend des 11. Juli 1967 – also vor genau 45 Jahren – auf der Fahrt von der Boelcke-Kaserne in Kerpen zum Fliegerhorst in Nörvenich in einem Kornfeld bei Blatzheim auf der Flucht von einem gleichaltrigen Kameraden erschossen worden. Dabei, so Hefter, hatte er sich eigentlich nichts Schlimmes zuschulden kommen lassen.
„Der Willy, der war ein netter junger Mann. Er wollte nur einfach kein Soldat sein“, erinnert sich Hefter. Den Wehrdienst hatte Corsten wohl nicht verweigert. Das wäre zwar auch damals schon möglich gewesen, war bis zur 68er-Bewegung aber die Ausnahme. Also war Corsten wie Hefter zur Bundeswehr eingezogen worden.
„Wir haben unsere Grundausbildung gemeinsam beim 5. Luftwaffenregiment in den Niederlanden absolviert und sind dann zusammen nach Nörvenich versetzt worden.“ Dort sei Corsten rasch bei den Vorgesetzten in Ungnade gefallen. „Er wollte keine Uniform anziehen und lief immer im Trainingsanzug herum.“ Auch habe Corsten bei „jeder Gelegenheit“ versucht, sich krankschreiben zu lassen oder nach Hause „auszubüchsen“.
Der junge Mann kam aus dem Dorf Körrenzig bei Linnich. Schon siebenmal, so steht es später in Presseberichten, sollen ihn die Feldjäger der Bundeswehr dort bei seiner Mutter abgeholt haben. Die habe immer wieder selber in Nörvenich angerufen, wenn ihr anscheinend unter „chronischem Heimweh“ leidender Sohn aufgetaucht war.
Dann wollte ein vorgesetzter Offizier – ein, so Hefter, „richtig scharfer Hund“ – den Renitenten wohl mit Härte zur Räson bringen. „Corsten ist von nun an ständig mit der Pistole zu bewachen“, habe er befohlen. „Dieser Schießbefehl hing überall aus.“ Die Geschwaderleitung soll davon aber nichts gewusst haben. Corsten wurde zudem zu einer 18-tägigen Arreststrafe verdonnert. Um die antreten zu können, musste er aber erst in der Boelcke-Kaserne in Kerpen von einem Truppenarzt untersucht werden. Der schrieb ihn haftfähig. Auf der Rückfahrt von Kerpen nach Nörvenich wurde Corsten im Jeep so von zwei gleichaltrigen Kameraden bewacht. Die, so heißt es später vor Gericht, sollen von ihrem Vorgesetzten eigens mit einer geladenen Waffe ausgestattet worden sein und auch den Hinweis erhalten haben, „persönlich“ dafür haftbar gemacht zu werden, falls es wieder zu einer Flucht komme.Corsten soll sich auf der Fahrt zweimal erbrochen haben.
Kurz vor Bergerhausen bat er schließlich darum anzuhalten, um mal frische Luft schnappen zu können. Nachdem der Wagen stand, schubste er seine Bewacher zur Seite und flüchtete mit großen Sätzen in ein Kornfeld. Auf Zurufe der Wache, er solle stehen bleiben, reagierte er nicht. Dann gab einer der Bewacher mehrere Warnschüsse mit der Pistole ab – erfolglos. Der andere Soldat, der einer der besten Schützen seiner Einheit gewesen sein soll, nahm sich die Pistole und schoss ebenfalls. Willy Corsten wurde schließlich etwas 200 Meter vom Straßenrand tot aufgefunden. Eine Kugel hatte das Hosenbein durchschlagen. Die zweite traf den Flüchtenden unter dem rechten Schulterblatt und durchschlug die Hauptschlagader.
Warnschüsse untersagt
Der Todesschütze weinte später vor Gericht und betonte, Corsten nur „versehentlich“ erschossen zu haben. Er habe knapp vorbeischießen wollen. Er stammte aus einem Nachbardorf von Körrenzig und kannte Corsten schon lange. „Wir waren Freunde“, soll er vor Gericht gesagt haben. Dort war er von Corstens Mutter als „Mörder, Mörder“ beschimpft worden.
Die Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung fiel milde aus: Der Todesschütze und sein vorgesetzter Hauptmann erhielten vier Monate Arrest, der zweite Bewacher sechs Wochen. Alle Strafen wurden gegen Zahlung einer Geldbuße zur Bewährung ausgesetzt. Die Bundeswehr zog aus dem Fall Konsequenzen und untersagte danach generell in Bagatellfällen Warnschüsse bei Fluchtversuchen.
Bei der Obduktion von Corstens Leiche stellte sich heraus, dass der junge Mann an einem Hirntumor litt. Der war den Stabsärzten bei der Untersuchung zu Lebzeiten des Wehrpflichtigen nicht aufgefallen. Möglicherweise war das Geschwulst die Ursache für seine höchst auffälligen Gemütsreaktionen. Corsten wäre eigentlich komplett dienstunfähig gewesen und hätte ausgemustert werden müssen, heißt es später in der Presse über den Fall. So sieht es auch Hefter: „1967, da hatten wir doch eigentlich Friedenszeiten.“