Bei diesem Bericht handelt es sich um einen Text aus dem Archiv, der unsere Leser besonders interessiert hat. Er wurde zum ersten Mal am 28.01.2021 veröffentlicht.
Rhein-Sieg-Kreis – Den Opfern wenigstens im Nachhinein „ihren Namen, ihr Gesicht, ihre Würde“ wiederzugeben, das, so Landrat Sebastian Schuster, war das Ziel einer Studie, die 2015 die Fraktionen von CDU und SPD, Grünen und FDP im Kreistag gemeinsam beantragten. Seit Herbst 2017 erforschte und dokumentierte der Bonner Historiker Ansgar Sebastian Klein im Auftrag des Kreises und des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) die, so der Untertitel, „NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg“. Nun sind die Ergebnisse seiner Arbeit als Buch mit dem Titel „»Euthanasie«, Zwangssterilisation und Humanexperimente“ erschienen.
Fachtagung und Ausstellung
Eine Reihe von Vorträgen begleitete in den zurückliegenden Jahren die Forschung zu den Medizinverbrechen der Nationalsozialisten. „Das Projekt ist mit der Studie nicht zu Ende“, betonte Kreis-Dezernent Thomas Wagner.
„Unbedingt“ solle es noch eine Fachtagung geben, auch für eine Ausstellung seien Restmittel vorhanden. Mit Blick auf die Pandemie werde aber vielleicht auch ein Film an die Stelle der Ausstellung treten.
Die Studie ist als Band 8 in der Reihe Stadt und Gesellschaft – Studien zur Rheinischen Landesgeschichte erschienen. Das Buch kostet 35 Euro. (dk)
Die Bedeutung der Publikation hob Dagmar Hänel am Mittwoch mit eigenem Erleben hervor: Eine Rangelei von Jugendlichen habe sie jüngst beim Spaziergang in Bonn beobachtet, erzählte die Leiterin des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte. Zwei aus der Gruppe zankten sich, dabei fielen die Worte: „Bist du behindert, du Spasti“.
Zwangssterilisierungen im Siegkreis und in Bonn
Der Vorfall zeige, wie Ausgrenzung und Entmenschlichung funktionierten. In der Zeit des Nationalsozialismus führte das zu staatlich legitimiertem Töten, andere Opfer dienten als „Material“ für Versuche oder wurden zwangssterilisiert. Und das nicht nur „weit weg, irgendwo“, sondern auch im damaligen Siegkreis und Bonn.
Schon im Juli 1933 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, aus dem Zwangssterilisierungen erwuchsen. Das „Instrument“ dafür seien die 1935 gegründeten Gesundheitsämter gewesen, berichtete der Autor Ansgar Klein. „Sehr gut“ sei die Quellenlage im Kreisarchiv zu den Zwangssterilisationen, 3000 Anträge auf erzwungene Sterilisation wurden vom Amtsleiter Bruno Bange (1892-1974) und seinen Mitarbeitern sowie aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn beim zuständigen Gericht in Bonn gestellt.
Mehr als 1000 Eingriffe wurden in staatlichen Kliniken vollzogen. Ins Visier geriet, wer blind oder gehörlos war, wer an Epilepsie litt, körperliche Missbildungen hatte oder psychisch krank war.
Weit weniger Aktenmaterial fanden Ansgar Klein und Projektleiter Helmut Rönz vom LVR zur Tötung von Kranken und Menschen mit Behinderungen. Eine „Sisyphusarbeit“ war die Nachverfolgung kleinster Hinweise aus Siegburger Quellen im Berliner Bundesarchiv, lediglich elf Akten unter 30.000 stammten von hier.
Auch in der Bonner Anstalt ermordeten die Nazis kranke Menschen
Mehr als 200.000 kranke und behinderte Menschen wurden ermordet. Auch Kinder aus dem Rhein-Sieg-Kreis und Bonn wurden in die „Kinderfachabteilungen“ überstellt; Kinder und Erwachsene starben in Hadamar bei Gießen, aber auch in der Bonner Heil- und Pflegeanstalt.
Insgesamt 476 Opfer konnte Klein ermitteln. Umgebracht in einem „Zusammenspiel von Parteidienststellen und staatlicher Verwaltung“, wie Klein schreibt: Die dreijährige Reinhild Trappe gehörte ebenso dazu wie Erich Adolf Diesing aus Friedrich-Wilhelms-Hütte, Alfred Kreuzer aus Lohmar oder Wolfgang Boy aus Honnef.
In Hadamar starben unter anderem die Erwachsenen Paul Krämer aus Bornheim und Christina Dienst aus Uckerath, Gertrud Brenner aus Troisdorf oder Karl Köndgen aus Kaldauen. Den Angehörigen wurden falsche Sterbeorte und Todesursachen mitgeteilt, um die Untaten zu verschleiern.
Jüdische Verschleppte aus Siegburg starben auch in Leipzig. Auch den Tätern gibt der Autor Namen und Gesicht, auch sie stammten bisweilen von hier: Menschenversuche mit Kampfgas wie Phosgen haben im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof (Elsass), so schreibt Klein, der aus Ruppichteroth stammende Lagerarzt Otto Bickenbach und sein Assistent Helmut Rühl gemacht. Rühl machte weiter Karriere, als wäre nichts gewesen. Er wurde Anfang der 60er Jahre in Siegburg Amtsarzt.
Auch Bickenbach praktizierte wieder als Arzt in der Kreisstadt. Nachdem er aus französischer Haft 1954 entlassen worden war, ließ er sich als Internist nieder. „Den Tätern ist nichts passiert“, bilanziert Ansgar Klein.
Die Opfer von Zwangssterilisationen hingegen mussten Jahre um eine Anerkennung als NS-Opfer ringen. 1980 gab es eine Einmalzahlung von 5000 Mark, und erst im Jahr 1988 rang sich der Bundestag dazu durch, die Zwangssterilisationen als nationalsozialistisches Unrecht anzuerkennen.
Großes Lob für die Studie spendete Ralf Forsbach, der Vorsitzende des Projektbeirats, dem Rhein-Sieg-Kreis. Als erster Landkreis könne der eine Untersuchung zu den Medizinverbrechen der Nazis vorlegen. Forsbach hofft auf eine „Initialzündung“ in anderen Gebietskörperschaften. Zufrieden zeigte sich auch Kreistagsmitglied Michael Solf (CDU), der Initiator der Untersuchung. „Wir schulden das den Opfern“, sagte er. Jugendliche im Rhein-Sieg-Kreis wolle er „immun machen“ gegen eine Verharmlosung der NS-Zeit.