Chanan Cohen hat fünfeinhalb Jahre in Sankt Augustin gelebt. Mit der Entführung seiner Schwester hat sich sein Leben dramatisch verändert.
„Sie sind im Haus“Ex-Sankt Augustiner bangt in Israel ums Leben seiner Schwester
Chanan Cohen ist ein rationaler Mensch, mit seinen 85 Jahren immer noch aktiv in der israelischen Friedensbewegung. Doch wenn er an den 7. Oktober 2023 denkt, wird er trotz seiner bewusst sachlichen Darstellung sehr emotional. „Meine Tochter hat mich angerufen. Sie erzählte von einem Telefonat mit ihrer Tante, meiner Schwester“, erinnert Cohen sich.
„Ich kann nicht weiterreden. Ich höre arabische Stimmen. Wahrscheinlich sind sie bei mir zu Hause“, sagte Margalit Moses leise zu ihrer Nichte. Kurz darauf wurde der Hörer aufgelegt. Die 79-Jährige lebte im Kibbuz Nir Oz, nur wenige hundert Meter entfernt vom Gaza-Streifen. Was mit ihr geschah, ist immer noch nicht gänzlich geklärt.
Immer noch gibt es keine Nachrichten, kein Lebenszeichen von ihr. Aufnahmen eines Hamas-Fernsehkanals, die Cohen in den Tagen danach sieht, zeigen, wie sie, vermutlich von Hamas-Kämpfern, mitgenommen wird. Ihr Bruder hat sie auf den Aufnahmen erkannt. Sie ist schwer an Krebs erkrankt, benötigt Medikamente. Mit ihr sind ihr Ex-Mann, dessen neue Frau, deren Tochter sowie drei und fünf Jahre alte Enkel entführt worden.
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Neun Tage lang hörte Cohen nichts vom israelischen Militär, nichts von der Polizei. Er klagte, auch öffentlich, die Behörden an. „Das Einzige, was wir wissen, haben wir aus den Propagandakanälen.“ Am Montag, dem zehnten Tag, gab es schließlich den ersten Kontakt. „Wir müssen DNA abgeben, der Sohn meiner Schwester hat die Nachricht bekommen“, so Cohen, „Militär und Polizei sind sehr aktiv, haben wir erfahren.“
Cohen hat von 2001 bis 2007 in Sankt Augustin gelebt, an der Lessingstraße. Mit Deutschland verbindet ihn viel, er spricht fließend Deutsch. Als Reiseleiter hat er unzählige Gruppe durch Israel geführt, auch aus Sankt Augustin. Aktiv war er bei der Anbahnung der Städtepartnerschaft mit Mewasseret Zion, die frühere Bürgermeisterin Anke Riefers hat gute Erinnerungen an ihn und seine Schwester.
Sie fiebert mit den beiden mit. „Das vergangene Wochenende war schrecklich.“ Natürlich gebe es Hoffnung. „Realistischerweise können wir aber davon ausgehen, dass die nicht gut behandelt werden.“ Sie versucht sich in Cohen hineinzuversetzen, denkt an die Familien, die alle hoffen, dass ihre Verwandten noch leben. Sie steht im telefonischen Kontakt mit Cohen, der nahezu rund um die Uhr telefoniert, Nachrichten verschickt, Interviews gibt.
Cohen ist Mitgründer des Kibbuz Nir Oz nahe am Gazastreifen
Der frühere Sankt Augustiner erzählt, dass unter den Entführten fünf Mitgründer des Kibbuz sind, Männer im Alter von 84 bis 87 Jahren. Es war zunächst eine Nachal-Siedlung, einer 1948 von David Ben Gurion gegründeten Bewegung. Die „Kämpfende Chaluzische Jugend“, so die Übersetzung, sollte als Weiterentwicklung der Pionierjugend Militärdienst und Landwirtschaft vereinen. Cohen war 1957 selbst im ersten Jahrgang der Nachal, die aus dem Militärposten schließlich einen Kibbuz schuf.
„Als wir dahin kamen, gab es zwei Reihen von Hütten. Auf dem Weg dazwischen haben wir im Staub Fußball gespielt“, weiß er noch. „Bis zum vergangenen Samstag war dort alles grün.“ Bekannt ist Nir Oz unter anderem für seine Granatäpfelbäume. In Sichtweite liegen die Grenzbefestigungen zum Gazastreifen. Sein Sohn war ebenfalls drei Jahre zum Militärdienst dort. „Für ihn ist das eine Katastrophe.“
Die Ungewissheit zehrt an ihm, das ist spürbar. Der Friedenskämpfer ist in einem Punkt unerbittlich: „Die Hamas muss vernichtet werden. Sie haben Menschen geschlachtet und Babys getötet.“ Für ihn gibt es nur einen Weg dort hin. „Gaza muss bis zum letzten Haus abgerissen werden, um die Terroristen in den Tunneln zu finden.“ Das Vorgehen der israelischen Armee – die Schaffung eines Korridors für die Flucht -verteidigt er: „Wir warnen die Bevölkerung. Was Israel macht, ist human.“
Annalena Baerbock hat sich eine Dreiviertelstunde Zeit genommen für die Familien
Cohen hat 1963 in Nir Oz geheiratet, heute leben noch 15 Familien dort, er selbst nicht mehr. „Weinen hilft nicht“, versucht er sich selbst aufzubauen, „uns bleibt nur zu hoffen.“ Er war beim Besuch von Annalena Baerbock in der deutschen Botschaft dabei. „Sie hat sich eine Dreiviertelstunde Zeit genommen für die Familien.“ Das hat ihn beeindruckt, da hatte er von seinen Behörden noch nichts gehört.
Den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Israel erlebt er als positives und wichtiges Signal. Ich hoffe, dass Deutschland so gegen den Terror kämpft, wie wir das tun, und unser Vorgehen akzeptiert. Auf seiner Geburtsurkunde übrigens steht, dass er Palästinenser ist. Am 27. Januar 1938 wurde er dort geboren. „Ich habe viele Male in Deutschland gesprochen, habe neben dem PLO-Vertreter gesessen. Ihm habe ich gesagt: Ich bin der echte Palästinenser.“
Am kommenden Sonntag ist in Berlin eine große Demonstration geplant
Cohen wird voraussichtlich diese Woche nach Berlin kommen. Dort ist am kommenden Sonntag eine große Demonstration geplant. Noch ist eine Reise mit einer Gruppe von Anke Riefers geplant, die er durch das Land führen will. Eine Absage ist bislang nicht vorgesehen. Cohen, dessen Geburtstag genau auf den Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee fällt, wird seine Stimme erheben.