Beim Sozialpolitik-Talk bei „Anne Will” ging es um Grenz- und Durchschnittssteuersatz, Abstiegsängste und Umverteilung. Beim Reden über Geld durfte jeder seine eigene Rechnung aufmachen. Und der Unionsfraktionschef traut dem Bundesfinanzminister nicht.
Das Thema
„Volle Staatskassen, leere Portemonnaies - wird jetzt die Mittelschicht entlastet?” Ein Dauerbrenner, der in den vergangenen Tagen an Aktualität gewann. Der Koalitionsausschuss schafft es trotz Rekordüberschuss nicht, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags vorzuziehen - obwohl fast alle maßgeblichen Politiker von der fälligen „Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen” reden.
Die Gäste
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus, SPD-Chef Norbert Walter-Borjans, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Gesamtverbandes und Linkspartei-Mitglied sowie Annette Dowideit, Buchautorin und Redakteurin bei der „Welt”. Hochkarätig besetzt, aber nur eine Frau neben der Moderatorin. Das ging schon einmal besser.
Die Diskussion
Wie immer beim Reden über Geld werden gleich mehrere Rechnungen aufgemacht. Zu Beginn weist Brinkhaus darauf hin, dass der Bund immer noch eine Schuldenlast von zwei Billionen Euro habe. Zudem sei das Geld verplant, für Infrastruktur, Schulen - und Verteidigung. Zweimal spricht Brinkhaus en passant darüber, dass die Bundeswehr mehr Mittel brauche - und noch nicht einmal Schneider widerspricht.
Brinkhaus macht sich über die vielen Wünsche für Entlastungen lustig: „Das kommt mir vor wie beim Kinderfußball, wo alle immer auf einem Haufen hinter dem Ball her rennen!„ Lindner kontert. „Warum muss immer der Bürger zurückstecken?”, fragt er Brinkhaus und Walter-Borjans. „Sparen ist nicht Ihre erste Priorität!“
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Auf die Frage, warum die Groko nicht die Abschaffung des Soli vorzieht, wenn doch Geld da sein sollte, zweifelt Brinkhaus die Rechnungen von SPD-Finanzminister Olaf Scholz an und verlangt einen „Kassensturz”. Scholz verfüge nach „Gutsherrenart” über den Haushalt. Ein harter Vorwurf.
Die Fachdebatte
Will und ihre Diskutanten drehen einige Runden um den Spitzensteuersatz und warum er bereits bei Facharbeitern in der Autoindustrie greife. Walter-Borjans rechnet den Unterschied zwischen Grenz- und Durchschnittssteuersatz vor. Der Ex-Finanzminister von der SPD und der Steuerberater Brinkhaus von der CDU könnten ein eigenes Talkformat bekommen, in dem sie erregt Probleme des Steuerrechts sezieren. Dann aber grätscht Schneider als Stimme der Schwachen dazwischen und sagt: Das Problem für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen sei gar nicht die Höhe der Steuern, sondern der Sozialabgaben.
Die Nebenbühne
Die Diskussion neben der Diskussion findet natürlich auf Twitter statt. Dabei wiederholt Christian Lindners Presseteam die Worte des Chefs fast zeitgleich in den sozialen Netzwerken...
... selbst wenn er tief in die Talkshow-Mottenkiste greift und die Mehrkosten des Flughafens BER anprangert. Im Studio gab es dafür ungläubiges Stöhnen. Doch Lindner schafft es sogar, den FDP-Dauerbrenner „Mehr Netto vom Brutto” unterzubringen. Ob er dafür eine Wette abgeschlossen hat?
Spannend aber die Arbeitsteilung in der SPD-Spitze. Während Walter-Borjans in der Sendung einmal mehr damit beschäftigt ist, seine Leistungen als NRW-Landesfinanzminister zu verteidigen und fachpolitische Diskussionen zu führen, grätscht seine Co-Vorsitzende Saskia Esken mit einer atemlosen Reihe von Umverteilungs-Tweets dazwischen.
Sozialpolitischer Kurzdialog der Talkshow-Urgesteine
Lindner: „Herr Schneider, es ist so einfach, umzuverteilen.”
Schneider: „So einfach ist das gar nicht, ich versuche das seit 20 Jahren.”