Nur weil die Verbindung zu den Energienetzen gekappt wird, ist in den Meilern noch lange nicht Schluss. Noch Jahrzehnte wird dort Betrieb sein.
AtomausstiegDeutschland schaltet ab – Was jetzt mit den Kernkraftwerken passiert
John F. Kennedy trat seine Präsidentschaft an, Juri Gagarin flog als erster Mensch in den Weltraum, Lothar Matthäus wurde geboren, das ZDF startete als TV-Kanal und die Antibaby-Pille kam auf den deutschen Markt. Doch noch eine andere historische Sache passierte in der ersten Hälfte des Jahres 1961. Im Juni ging das Kernkraftwerk Kahl ans Netz, Deutschland startete damit offiziell in die Atomenergie.
Knapp 62 Jahre später endet das Kapitel - zumindest das mit der Atomenergie am Netz. Spätestens eine Minute vor Mitternacht am Samstag, 15. April 2023, wird die letzte Verbindung gekappt. Dann werden die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland abgeschaltet. Und Deutschland ist ausgestiegen.
Der tatsächliche Atomausstieg wird noch Jahrzehnte, Jahrhunderte dauern
„Es gibt nicht den einen Moment, in dem ein Knopf gedrückt wird“, sagt Jochen Ahlswede, Leiter der Abteilung Forschung und Internationales am Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base). Eher nach und nach würden die Kraftwerke heruntergefahren, bis nach einem gewissen Zeitraum, „der sich über Stunden erstrecken kann, die Leistung, die durch die nukleare Kettenreaktion erzeugt wird, bei null liegt.“
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Das Atomkraftwerk ist dann aus - doch der Betrieb geht vorerst weiter. „Es wird noch sehr lange dauern, bis das Atomzeitalter abgewickelt ist“, sagt der Experte. Denn sind die Kraftwerke erst einmal vom Netz, folgen die Phasen des Nach- oder auch Restbetriebs und der Stilllegung mit dem Rückbau. Und alleine das wird Deutschland noch auf Jahrzehnte beschäftigten. Als Beispiel: Neckarwestheim I ging bereits 2011 vom Netz. Trotzdem begann der Rückbau erst 2017, teilt der Betreiber EnBW mit.
Der Reaktor Neckarwestheim II ist noch bis 15. April in Betrieb, für die Rückbau-Phase rechnet EnBW mit 15 Jahren. Typischerweise, sagt auch Ahlswede, müsse man mit rund fünf Jahren Nachbetrieb und zehn bis 15 Jahren Rückbau rechnen. In einer gemeinsamen Mitteilung vom Base und dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) heißt es, Nachbetrieb und Rückbau würden in etwa so lange dauern wie das aktive Atomzeitalter, also rund 60 Jahre.
Atomkraftwerke bleiben noch über Jahre im Hochrisikobetrieb
Doch was passiert jetzt in den Atomkraftwerken? Im Nachbetrieb werden üblicherweise erst einmal die risikoreichen Stoffe abgetragen, etwa die Brennstäbe. Diese speisen zwar keine Energie mehr ins Netz, geben aber immer noch Wärme und Energie ab, Nachzerfallswärme wird das genannt. „Die Strahlung radioaktiver Stoffe, die im Reaktor produziert werden, kann man nicht einfach abschalten. Da reden wir über physikalische Prozesse, die über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende laufen“, sagt Ahlswede.
Deshalb müssen die Brennelemente zunächst ins Kühlbecken, das jedes Kraftwerk hat, um die Wärme zu minimieren. Im Nachbetrieb ist die Anlage nahezu so risikohaft wie im normalen Betrieb: Ahlswede erklärt: „Das Hochrisikopotenzial eines Atomkraftwerks ist nicht mit dessen Abschaltung auf null, denn die angefallenen hochradioaktiven Abfälle müssen weiter gekühlt und sicher verwahrt werden.“ Und die Radioaktivität nimmt erst im Laufe der Jahre, eher Jahrhunderte ab.
Brennstäbe: Vom Kühlbecken geht es in den Castor-Behälter
Mehrere Jahre sind die Brennelemente im Kühlbecken, am Standort Neckarwestheim II werden es voraussichtlich drei bis fünf sein, schätzt Jörg Michels, Geschäftsführer der Kernkraftsparte der EnBW. Aktuell liegen dort 472 radioaktive Elemente im Lagerbecken, bald werden 193 weitere aus dem Reaktor hinzukommen.
Erst nach der Abklingzeit werden die Brennelemente für den Abtransport vorbereitet. Die Oberfläche ist noch rund 80 Grad heiß, wenn die Brennmittel vom Kühlbecken in den Castor verladen werden. Von dort geht es ins Zwischenlager. „Das Risikopotenzial ist deutlich geringer, wenn die Abfälle nicht mehr auf eine aktive Kühlung angewiesen und im Castor-Behälter eingeschlossen sind“, sagt Ahlswede.
Dennoch: Auch im Rückbau gibt es ein Restrisiko, das BfS warnt etwa vor möglichen Cyberattacken oder Nuklearwaffenangriffen. Verlängerte Laufzeiten stellen Betreiber vor Herausforderungen Jeder Betreiber entscheidet individuell und durch Genehmigungen des jeweiligen Bundeslandes, wie genau der Abbau vonstatten geht. EnBW arbeitet nach eigenen Angaben beispielsweise seit zehn Jahren an einem Konzept für den Rückbau von Neckarwestheim II.
Doch das musste kurzfristig noch einmal angepasst werden. Mit der Entscheidung der Bundesregierung, den Betrieb um dreieinhalb Monate zu verlängern, waren die ausgearbeiteten Pläne obsolet: „Der Rückbau war teilweise auf den Tag genau geplant. Das mussten wir jetzt mit großem Aufwand anpassen“, sagt EnBW-Geschäftsführer Michels. Typischerweise untersuchen, wenn die Brennelemente weg sind, Expertinnen und Experten, welche Anlagenteile im Reaktor wie stark kontaminiert sind.
Das können etwa Behälter, Oberflächen und Rohre sein. Im Reaktorkern wird die Strahlenbelastung durch eine chemische Reinigung reduziert. Trotzdem werden diese Bauteile beim Rückbau in den meisten Anlagen erst einmal außen vor gelassen und die nicht kontaminierte Teile zuerst abgebaut. Das geht schneller und ist weniger riskant, es bedarf keiner besonderen Lager für diese Bauteile. Erst am Ende werden dann die radioaktiv verseuchten Bereiche zerlegt und sicher verpackt.
Zwischenlager Konrad geht frühestens 2027 in Betrieb
„Viele Prozesse beim Rückbau radioaktiver Anlagenteile erfordern Handarbeit“, sagt Ahlswede. Es gebe zwar auch Maschinen und Roboter, die unterstützen, aber da die Anlagen kleinteilig und hochkomplex seien, müssten auch immer Menschen im Einsatz sein. Das sind vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bisher die Kraftwerke betrieben haben: „Wer jahrelang zum Beispiel die Turbine betreut hat, weiß auch am besten, wie man diese abbaut“, erklärt EnBW-Geschäftsführer Michels.
Frühestens 2027 können die kontaminierten Teile, die den größten Teil des atomaren Mülls ausmachen, entsorgt werden, im Endlager Konrad im niedersächsischen Salzgitter. Bis dahin müssen wohl auch neue Zwischenlager gebaut werden - denn in den heutigen Zwischenlagern ist für die riesigen Mengen von kontaminierten Anlagenteilen - rund 5000 Kubikmeter pro Kernkraftwerk und damit so viel wie zwei prall mit Wasser gefüllte olympische Schwimmbecken - kein Platz.
Deutschland sucht das Endlager
Noch schlechter sieht es bei der Entsorgung der hochradioaktiven Materialien wie Brennstäbe aus: Es gibt schlicht noch kein Endlager. Bis 2027 soll es Vorschläge für den sichersten Standort in Deutschland geben, an dem der Atommüll eine Million Jahre lagern kann. Das wiederum bedeutet: Die aktuell 16 Zwischenlager wie in Neckarwestheim sind noch Jahrzehnte in Betrieb, derzeit lagern dort 1900 Behälter mit hochradioaktiven Abfällen.
„Neben den Kernreaktoren stehen die Zwischenlager, in denen die hochradioaktiven Abfälle gelagert werden. Dort werden die Abfälle sicher verwahrt, bis ein Endlager zur Verfügung steht“, sagt Ahlswede. Erst danach können die Zwischenlager rückgebaut werden. Im Idealfall bedeutet das allerdings, dass an vielen Standorten, nämlich allen ohne Zwischenlager, schon in einigen Jahren bis Jahrzehnten keine radioaktiven Lasten mehr vorhanden sind und die Menschen in den Orten keiner Gefahr mehr ausgesetzt sind.
Anders sieht das bei den Standorten mit Zwischenlager aus. Vor allem weil unklar ist, wann und wo es ein Endlager geben wird, herrscht Unsicherheit und Angst. „Die Zwischenlager dürfen keine Dauerstandorte für den radioaktiven Abfall werden“, sagt auch Ahlswede. „Das wäre langfristig keine sichere Option und für die Menschen, die dort wohnen, auch keine akzeptable Situation.“
Bis die ersten großen und äußeren Anlagenteile demontiert werden, ist von außen erst einmal wenig sichtbar, denn die meiste Arbeit findet drinnen statt: Im Reaktor, in den Kühlbecken, an den Sicherheitsstellen, Messpunkten und in der Logistik. Seit rund einem Jahr ist beispielsweise das Atomkraftwerk Grohnde im Nachbetrieb. Dominik Petters, der Bürgermeister der Gemeinde Emmerthal, in der das AKW steht, sagt: „Gerade ist viel Neugierde da, weil auf dem Gelände viel passiert.“ Es sehe mehr nach Aufbau als Rückbau aus, so viel sei los.
Betreiber müssen die Atomkraftwerke unmittelbar rückbauen
In den Kernkraftwerken in Deutschland werden noch über Jahrzehnte Arbeitskräfte gebraucht. Das sind zum einen Menschen, die dort auch im aktiven Betrieb gearbeitet haben und die Anlage kennen, zum anderen aber auch Fachkräfte für den Rückbau.
Erst 2017 hat Deutschland das Gesetz geändert: Seither sind Betreiber verpflichtet, den Rückbau direkt nach dem Betrieb in Angriff zu nehmen. „Zuvor war es möglich, dass Betreiber die Anlagen sicher einschließen, sie gegebenenfalls über Jahrzehnte verschlossen halten und dann erst später den Rückbau starten“, sagt Ahlswede.
So gibt es nebst den Zwischenlagern auch noch Kernkraftwerke, die zwar schon längst stillgelegt sind, aber noch nicht rückgebaut wurden. Außerdem gibt es Forschungsanlagen, deren unmittelbarer Rückbau nicht vorgesehen ist. Ahlswede sagt: „Wir sprechen von vielen Jahrzehnten, bis wir als Gesellschaft tatsächlich all das abgewickelt haben, was Atomenergie an Risiken erzeugt hat.“