Als Kind wurde Jens Windel von einem katholischen Priester vergewaltigt. Jetzt will er gegen das Bistum Hildesheim klagen – ein Zeichen für Betroffene.
Bistum HildesheimAuf dieses Missbrauchsverfahren wird ganz Deutschland schauen
Da stand nun diese Summe auf dem Kontoauszug, Blatt sieben. Zwischen der letzten Abhebung vom Geldautomaten, 200 Euro, die Handyrechnung, 29,90 Euro. Und dann also, gleiche Schrift: 1000 Euro plus, „Überweisung von Generalvikariat“, kein weiterer Kommentar.
„Ich stand auf der Straße und habe geschrien, ich wäre beinahe zusammengebrochen“, sagt Jens Windel heute, vor sich auf dem Tisch die gelbe Mappe, in der er alles abgeheftet hat, was wichtig ist für seinen Fall. „Jetzt kannte ich also meinen Wert“, sagt Windel. 1000 Euro. Für 30-fachen Missbrauch, dafür, als Elfjähriger vergewaltigt worden zu sein, für Depressionen, Flashbacks, Albträume, Jobverlust.
„Eine Prostituierte wäre ihn teurer gekommen“, sagt ein Bekannter über Windels Peiniger lapidar nach einem Blick auf den Auszug. 1000 Euro.
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Der Auszug, ein schmales Blatt, Sparkasse, datiert vom 14. Januar 2015. Seitdem ist viel geschehen. Die Kirche hat Jens Windel mehr Geld überwiesen, insgesamt jetzt das 50-fache jener ersten Summe. Aber dieser 14. Januar 2015, diese erste Überweisung, das war auch der Beginn eines Kampfes, der für Jens Windel bis heute nicht vorüber ist. Eines Kampfes um Anerkennung, um inneren Frieden. Und eines Kampfes, der jetzt in eine neue Runde geht. Denn bald, wenn nicht noch etwas gänzlich Unerwartetes geschieht, wird Windel der Kirche vor Gericht gegenüberstehen. Dann wird es um eine andere Summe gehen, voraussichtlich mindestens 400.000 Euro. Um das Urteil eines weltlichen Gerichts. Und um die Frage: Wie lassen sich diese Verbrechen sühnen?
Das Drama nach dem Drama
Seit mehr als zehn Jahren, seit Betroffene und immer neue Studien das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten enthüllen, währt der Streit um angemessene Entschädigungen. Es ist für viele Opfer das zweite Drama nach dem eigentlichen Drama.
Inzwischen hat die Kirche, maßgeblich auf den öffentlichen Druck hin, ein Entschädigungssystem geschaffen, das sie selbst noch immer für angemessen hält. Die entscheidende Rolle spielt darin die „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen“, die Betroffenen Entschädigungen von bis zu 50.000 Euro zuspricht – in besonders schweren Fällen auch mehr.
Doch seit dem Frühjahr steht dieses System erneut infrage. Erstmals hat da ein ordentliches Gericht dem Opfer eines Priesters eine Entschädigung zugesprochen. 320 Fälle sexuellen Missbrauchs hatte der heute 64-Jährige geltend gemacht. 300.000 Euro sprach ihm das Landgericht Köln nun zu. Das Urteil sei ein wichtiges Signal für Tausende ähnlich gelagerte Fälle in Deutschland, sagte der Sprecher der Betroffenengruppe Eckiger Tisch, Matthias Katsch, damals. Seit mehr als einem Jahrzehnt habe sie die Opfer hingehalten und mit symbolischen Zahlen ruhiggestellt. „Nun muss sie angemessene Entschädigungen zahlen.“
Die Klage von Jens Windel gegen das Bistum Hildesheim könnte die nächste sein, an der sich zeigt, wie die Justiz mit den Klagen der Opfer umgeht. Und zu welchen juristischen Mitteln die Kirche greift, um sie abzuwehren.
Windel ist 49 Jahre alt. Kurzes Haar, Vollbart. Feste, ruhige Stimme, kräftige Statur. Niemand, der auf den ersten Blick wirkt, als lasse er sich leicht einschüchtern. Seine Geschichte erzählt er in einem Café in der Fachwerk-Kleinstadt, in der er gerade zur Weiterbildung ist. Leise genug, um niemanden zu stören, aber auch laut genug, um in Kauf zu nehmen, dass jemand ihn hört.
Was er sich von der Klage erhofft? „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, frei zu sein im Kopf“, sagt er. Was er sich letztlich erhofft: Freiheit.
Jens Windel war neun Jahre alt, als er in den Machtbereich von Pfarrer S. geriet. S., der auch der Religionslehrer war. Unter den Kommunionskindern wählte er diejenigen aus, die Messdiener wurden. Für sie wurde sein Haus zum Treffpunkt, in dem sie Filme sehen durften, die sie sonst nirgends sehen durften. Unter den Messdienern wiederum wählte er die aus, die ihm noch näherkommen sollten. Die er mit in sein Schlafzimmer nahm.„Immer wieder sagte er, er liebe mich wie Jesus, der die Kinder zu sich kommen ließ“, sagt Windel heute.
Rund 30-mal, so schätzt es Windel, habe S. ihn missbraucht. Immer weiter sei er gegangen, bis zur Vergewaltigung. Das letzte Mal sei dann auch das brutalste gewesen: An einem Sonntag, nach Messe und Kollektezählen, riss S. ihn mit Gewalt von der Toilette und verging sich gleich dort an ihm.
Das Blut, sagt Windel, habe er sich in der Badewanne selbst aus der Hose gewaschen. „Niemand durfte etwas merken.“ Still sei er damals gewesen, verschlossen, reizbar.
Die Bilder kehren zurück
Windel redet, so schildert er es selbst, nie mehr darüber. Verschließt die Erinnerungen in sich, bis sie vor ihm selbst verborgen sind. Erst 2013, nach einem Verkehrsunfall, kommen die Bilder zurück. Der Schock, so beschreibt er es, bringt die Bilder eines noch größeren Schocks zurück. Einige Wochen, dann überwältigen ihn die Bilder. Der behaarte Bauch. Die Münze an einer lagen goldenen Kette. Und so vieles mehr.
Ein paar Wochen, sagt Windel, versucht er, die Bilder zu ignorieren. Lebt sein bisheriges Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Geht zu seiner Arbeit als Pflegedienstleister in einem Altenheim. Bis es nicht mehr geht. Die Ärzte und Therapeuten, zu denen er nun geht, diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung. Jens Windel ist raus. In seinen alten Job wird er nie wieder zurückkehren.
Aber er hat auch eine eigene Art, mit Traumata und Schicksalsschlägen umzugehen: Jens Windel sucht sein Heil in der Beschäftigung. So macht er es 2008, nachdem seine schwangere Lebensgefährtin bei einem Unfall stirbt: Er sucht sich, neben der Arbeit in der Pflege, noch einen weiteren Job, er hält Wache in der Spielhalle. „Ich brauchte nur irgendeinen Job, den ich ohne nachzudenken erledigen konnte.“
Und so ähnlich macht er es dann wieder. Nach zwei Jahren Krankheit und Klinikaufenthalten macht er 2017 eine Umschulung zum Verwaltungswirt, arbeitet fortan beim Land. Und schafft für sich daneben wiederum noch einen Zweitjob: den des Aktivisten in eigener Sache. Und für andere, denen Ähnliches widerfahren ist. Gründet die Betroffeneninitiative Hildesheim, wird Mitglied im Betroffenenbeirat der Bischofskonferenz, demonstriert mit Aktionsbündnissen in Rom oder Fulda, wenn sich dort die Bischöfe treffen.
Auch für sich selbst erreicht Jens Windel etwas. Er wendet sich an die Presse, mit Erfolg. Noch 2015 stockt die Kirche ihre Anerkennungszahlen erst auf 7000 Euro auf, später auf mehr als 20.000 und 2021 schließlich auf insgesamt 50.000 Euro. Niemand formuliert Zweifel, dass Pfarrer S. den Jungen Jens missbraucht hat. S. war im Jahr 2000 verstorben. Windels Schilderungen „erscheinen glaubwürdig“, schreibt der Bischöfliche Beraterstab Anfang 2021. Eine noch höhere Zahlung jedoch und die damit verbundene Einstufung als besonders schwerer Fall lehnen Kommission und Bistum ab.
Es sei ihm da nicht um eine bestimmte Summe gegangen, beteuert Windel heute. „Ein Euro mehr hätte mir gereicht.“ Ein Euro mehr, das hätte bedeutet, ihn als besonders schweren Fall anzuerkennen. So aber fühlt er sich erneut benutzt – als jemand, mit dem die Kirche einerseits die Kooperation mit den Opfern von früher demonstriert, dem sie andererseits aber ihre Rechte verwehrt. Bis heute, sagt er, leide er unter Konzentrationsschwierigkeiten, depressiven Schüben, Albträumen. „Von jetzt an beschloss ich: Nicht mehr mit mir.“
50.000 Euro für eine Ohrfeige
Gerade hat er gelesen, dass Oliver Pocher, der Comedian, 50?000 Euro für eine Ohrfeige zugesprochen bekam. Dieselbe Summe, die er bekam, nach 30-fachem Missbrauch als Kind. „Da ist doch“, sagt er, „irgendwas nicht richtig.“ Windel beschloss zu klagen.
Das Bistum Hildesheim wiederum lehnt eine außergerichtliche Einigung mit Jens Windel nach wie vor ab. Diese erinnere stets an „Mauschelei“, so sagte es der als reformfreundlich geltende Bischof Heiner Wilmer in einem Interview. Ein solches Vorgehen, an der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen vorbei, würde „dieses etablierte Verfahren beschädigen“, erklärt sein Sprecher. Man stehe zu diesem System, bei dem sich Betroffene keinem Gutachter stellen müssen, bei dem sie keinen Anwalt brauchen und ihre Schilderungen nur auf Plausibilität geprüft werden. Gerade hat die Bischofskonferenz Änderungen an dem System abgelehnt, trotz aller Kritik von Betroffenen. Es sei nun auch nicht das Ziel, Windel von einer Klage abzubringen, betont der Bistumssprecher: „Sollte es zu einer Klage kommen, wird sich das Bistum diesem Verfahren stellen.“
Es wird ein Verfahren, auf das Betroffene aus ganz Deutschland schauen werden. Es wäre, neben einem gerade gestarteten Verfahren in Traunstein, eines der ersten nach dem Kölner Fall. Bis heute, sagt Matthias Katsch vom Eckigen Tisch, meldeten sich weiterhin viele Betroffene aufgrund des Kölner Urteils und fragten nach Anwälten. Wenn sie bisher zögerten, dann nur deshalb, weil viele alt und krank seien, die Anstrengung, die Gutachten und hohe Kosten im Falle einer Niederlage fürchteten.
Die Anwälte von Windel, dieselben wie im Fall des Kölner Georg Menne, haben seinen Fall auch deshalb ausgewählt, weil sie ihn für ebenso schwerwiegend wie erfolgversprechend halten. Die Verjährung, auf die sich das Bistum in einem Verfahren möglicherweise berufen will, greife hier jedenfalls nicht, sagt der Essener Anwalt Christian Roßmüller: „Eine Institution, die über so lange Zeit trickst, täuscht und verschleppt, kann sich nicht auf die Verjährung berufen.“
Aber da ist dennoch das Risiko. Darum weiß auch Jens Windel. Die Gefahr, dass er nicht mit einem Triumph aus dem Gericht kommt. Sondern mit einer Niederlage. Einer weiteren Kränkung. Ob er sich damit beschäftigt? Jens Windel zögert. „Das wäre eine Katastrophe“, sagt er schließlich, „von der ich mich nicht mehr erholen würde.“ (RND)