Berlin – Landesweite 7-Tage-Inzidenz: 32,3. Es nur eine dürre Zahl – aber nie gab es eine bessere Spanien-Werbung als diese. Spanien ist jetzt das sicherste Land in Europa. Auch Italien (68,1) und Portugal (75,9) sehen im europaweiten Vergleich gut aus.
Europa erlebt jetzt nach zwei vor allem für den Süden schlimmen Coronawintern eine historische Umkehrung der Verhältnisse: Plötzlich sitzen die Sorgenkinder im Norden.
Hohe Inzidenzen in Deutschland, Niederlande, Österreich und Dänemark
In Deutschland (Inzidenz: 232,1) hat sich die Zahl der täglich registrierten Corona-Toten zwischen dem 23. Oktober und dem 9. November mal eben verzehnfacht, von 23 auf 237. Bayern will, nachdem regionale Inzidenzen hier und da ins Vierstellige schossen, den Katastrophenfall verkünden.
Dänemark rief am 10. September fröhlich den „Freedom Day“ aus – und blickt jetzt auf eine Inzidenz von 287,9. Die Niederlande schafften schon die Maskenpflicht beim Einkaufen ab. Aktuelle Inzidenz: 447,5. Österreich, von Ex-Kanzler Sebastian Kurz stets augenzwinkernd als „smart small country“ vorgestellt, schockt den Rest Europas mit einer Inzidenz von 651. Nicht mal Tschechien, Bulgarien oder Rumänen ringen mit so hohen Zahlen.
„Deutschland ist eines der kränksten Länder der EU“
Was ist da los? Hat plötzlich der Süden Europas den Bogen raus bei der Virenabwehr? Zumindest sucht man das Vorbild nicht mehr im Norden. „Deutschland“, notierte dieser Tage die Zeitung „La Repubblica“ in Italien „ist eines der kränksten Länder der EU“. Jeder im Süden weiß natürlich: Das sah alles schon mal anders aus.
In Italien ist unvergessen, wie sich Militärlastwagen durch die engen Straßen von Bergamo quälten, um die Toten der ersten Welle abzutransportieren. In Spanien denkt man schaudernd an die dunklen Tage, in denen Madrids Eisstadion „Palacio de Hielo“ zur Leichenhalle umfunktioniert wurde. In Portugal halfen noch im Februar dieses Jahres Bundeswehrsoldaten mit Beatmungsgeräten.
Ärzte verweisen auf höhere Impfquoten in den südlichen Ländern
Wie kommt es, dass sich nun plötzlich so viel gedreht hat? Ärzte verweisen auf höhere Impfquoten. In Spanien sind 80 Prozent doppelt geimpft, auch unter Zwölf- bis 19-Jährigen. In Portugal ließen sich sogar 87,4 Prozent impfen. In Deutschland indessen ist nicht nur die Impfquote (66,6 Prozent) mau.
Land und Leute entdecken gerade generell ihre eigene Mittelmäßigkeit. Entscheidungen fallen zu langsam, allzu viele Bürger denken nur an sich, und es fehlt an politischer Führung. Der Regierungswechsel macht alles noch komplizierter. Angela Merkel ist nur noch geschäftsführend im Amt.
SPD, Grüne und FDP wollen künftig bundesweit die 3G-Regel am Arbeitsplatz einführen
Ob aber Olaf Scholz sie wie geplant schon am 6. Dezember ablösen kann, ist offen. Jetzt dringt Merkel auf ein baldiges Treffen mit den Bundesländern, um „schnellstmöglich“, wie Regierungssprecher Steffen Seibert sagt, über die Corona-Lage zu beraten.
Zugleich aber markieren drei Beispiele unverändert die deutsche Langsamkeit in der Pandemie. SPD, Grüne und FDP wollen künftig bundesweit die 3G-Regel am Arbeitsplatz einführen. Beschäftigte, die weder Impfung noch Genesung nachweisen können, sollen sich täglich auf Corona testen lassen. Dieser politische Beschluss wurde am 10. November gefasst.
Wann er Gesetz wird, ist schleierhaft. Zum Vergleich: In Italien trat die 3G-Regel am Arbeitsplatz schon am 15. Oktober in Kraft. Premier Mario Draghi drückte die Verschärfung im Herbst im Parlament durch, landesweiten Protesten auf den Straßen zum Trotz.
Deutschland diskutiert zu viel über neue Corona-Maßnahmen
Deutsche Talkshows debattieren seit Monaten in einer Endlosschleife, ob es nicht eine gute Idee wäre, eine Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen einzuführen. Die Lage sei „so ernst, dass wir tatsächlich Themen wie Impfpflicht diskutieren müssen“, sagte zuletzt etwa die Ärztin Carola Holzner am Dienstagabend bei „Markus Lanz“.
Während die Deutschen weiter diskutieren, worüber man alles diskutieren müsse, schaffen andere EU-Staaten Fakten. Schon seit Mai droht Italien Impfverweigerern im Gesundheitswesen mit Suspendierung. Hunderte verloren bereits ihr Gehalt, konnten aber inzwischen in den Job zurückkehren – nach der Impfung.
Ähnliche Regeln gelten seit September in Frankreich und Griechenland. In Spanien, wo das Gesundheitswesens durchgeimpft ist, fordern die Arbeitgeber bereits eine Impfpflicht für die Beschäftigten aller Branchen.
Komplizierte Debatten über Booster-Impfungen in der Bundesrepublik
Die Debatte um Booster-Impfungen wurde von Deutschlands Ständiger Impfkommission gebremst und verkompliziert. Anfangs hieß es, zu empfehlen sei das Boostern erst ab einem Alter von 70, neuerdings heißt es, „mittelfristig“ könne man es ausweiten.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zog in dieser Debatte soeben völlig neue Saiten auf. In einer Fernsehansprache am Dienstagabend erklärte er die Auffrischung kurzerhand zur Pflicht.
Franzosen ab 65 Jahren werden ab dem 15. Dezember eine Auffrischungsimpfung nachweisen müssen, um noch als geimpft gelten zu können: So geht ein Boost für das Boostern.
In Deutschland ist nicht nur die Impfquote mau. Entscheidungen fallen zu langsam, viele Bürger denken nur an sich, und es fehlt Führung.