- Die Kanzlerin hat im Bundestag die verschärften Corona-Einschränkungen verteidigt.
- Die Opposition fordert Mitsprache im Parlament und warnt vor Aktionismus.
- Angela Merkel wirkt angestrengt und ackert sich durch ihren Redetext. Eindrücke aus dem Bundestag.
Manchmal wirkt Angela Merkel, als würde sie stundenlang die Zähne zusammenbeißen. Das Kinn schiebt sich nach vorne, das Gesicht wird eckig. So sitzt die Kanzlerin am Donnerstagvormittag auf ihrem Platz in der ersten Reihe der Regierungsbank im Bundestag und blickt vor sich hin. Keine Regung läuft über ihr Gesicht.
Der Bundestag debattiert über die neuen Corona-Einschränkungen, die Bund und Länder am Vortag beschlossen haben. Die Stimmung ist alles andere als begeistert. Ein November soll es ja auch werden, der seinem freudlosen Ruf alle Ehre macht, mit Kontaktbeschränkungen und der Schließung von Kneipen und Restaurants, Kinos und Konzerthäusern. „Es gibt kein milderes Mittel“, so hat es Merkel gerade in ihrer Regierungserklärung gesagt. „Der Winter wird schwer.“ Es ist ihr voraussichtlich letzter Winter als Kanzlerin. Es ist kein lockeres Auslaufen, mit der zugegebenermaßen schon reichlich komplizierten europäischen Finanzplanung als schwerster Herausforderung.
Kleine Corona-Atempause für Merkel im Sommer
Im 16. Jahr ihrer Amtszeit hat Angela Merkel eine weitere schwere Krise zu bewältigen. Gleich in ihrer ersten Amtszeit brachte die internationale Finanzkrise die Banken ins Wanken, dann taumelten EU-Staaten wie Italien, Portugal und vor allem Griechenland in Zahlungsnöte – und auch die Stabilität des Euro schien nicht mehr garantiert. Es folgte der Zustrom von Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland Syrien, aus Afrika, aus überfüllten Flüchtlingslagern anderswo im Jahr 2015.
Das Schwerste aber kommt nun zum Schluss: die Corona-Krise ist Merkels schwerste Krise. Sie dreht sich nicht um Geld und Sparkonten oder den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern von Beginn an um beides: Abzuwägen sind die Lebensgefahr der Viruserkrankung, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems, die wirtschaftlichen, psychologischen und sozialen Probleme, die aus Beschränkungen erwachsen können, aber auch aus hohen Kranken- und Todeszahlen.
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Eine kleine Atempause hat es im Sommer gegeben. Nun, im achten Monate der Krise, ist das Virus voll wieder da. Vor einigen Wochen hat Merkel die mögliche exponentielle Steigerung von Ansteckungszahlen öffentlich vorgerechnet. Es klang wie ein etwas utopisches Gedankenexperiment, mit 19200 Neuinfektionen vor Weihnachten. Am Donnerstag meldet das Robert Koch-Institut über 16.000 Neuinfektionen. Merkels Rechnung ist übertroffen worden.
Merkel ackert sich im Bundestag durch Redetext
„Eine solche Dynamik wird uns in wenigen Wochen überfordern“, warnt Merkel also im Bundestag. Es ist ihre Erklärung für die neuerlichen Beschränkungen, die sie in der Regierung auch als „Bremse“ bezeichnen. Sie hatte zwischendurch etwas an Leichtigkeit gewonnen in ihrer letzten Amtszeit, als befreie sie die Aussicht auf Leben ohne Kanzleramt, ohne tägliche Anspannung, Krisensitzungen und zwischendurch die Telefonate Wladimir Putin oder anderen schwierigen Zeitgenossen. An diesem Tag ist von Leichtigkeit nichts zu merken, Merkel ackert sich durch ihren Redetext.
Die Antwort auf Merkels Rede ist Kritik von allen Seiten, in unterschiedlicher Ausprägung zwischen Furor und Anmerkung. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland spricht von „Coronadiktatur“ eines “Kriegskabinetts“. Er findet, Jüngere müssten sich als resistentere Gruppe nicht einschränken. Der Tod von Kranken müsse in Kauf genommen werden: „Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben.“ Seine AfD brüllte während Merkels Rede noch so vehement dazwischen, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zur Disziplin mahnen muss.
FDP-Chef Christian Lindner warnt etwas weniger drastisch vor „Panikvokabular“ und „Showdown-Sitzungen“. Auch er fordert „Gesundheitsschutz und Freiheit in eine bessere Balance“ zu bringen. Linken-Fraktionschefin Amira Mohammed Ali fordert mehr soziale Abfederungen der Beschlüsse. Ihre Amtskollegin bei den Grünen, Katrin Göring-Eckardt, hält zwar die Beschränkungen für nötig, kritisiert aber, es sei falsch, die Hilfen für die Betroffenen immer erst zu konkretisieren, wenn die Einschränkungen schon beschlossen seien.
Union stellt sich geschlossen hinter die Kanzlerin
In einem ist die Opposition sich einig: Der Bundestag werde zu spät mit den neuerlichen Einschränkungen befasst. Nicht nach, sondern vor den Bund-Länder-Beratungen hätte man im Parlament diskutierten müssen, sagen Göring-Eckardt, Mohammed Ali und Lindner. Der Koalitionspartner SPD verpackt seine Kritik in einen Vorschlag: Fraktionschef Rolf Mützenich sagt, in Krisenzeiten brauche die Regierung Flexibilität. Die Fraktionen sollten aber gemeinsam versuchen, dafür neue Regeln zu finden.
Nur die Unionsfraktion stellt sich geschlossen hinter Merkel. Fraktionschef Ralph Brinkhaus fegt die Einwände von AfD vom Tisch, er nimmt sich die FDP vor, nicht staatstragend, sondern so furios, als wolle auch er sich nun noch als CDU-Vorsitzender und möglicher Kanzlerkandidat bewerben. Und für die CSU verkündet Alexander Dobrindt: „Das Nichthandeln führt zur Realisierung des maximalen Risikos. Das bedeutet: Tod.“ So viel Einigkeit in der Union ist nicht immer gewesen in den vergangenen Jahren. Die Kanzlerin erwacht aus ihrem Starren und nickt kurz.
Alle ihre Krisen hat sie so bewältigt: Sie hat die Kritik gegen sich anbranden lassen. In der Eurokrise hat sie den damaligen Finanzminister Schäuble auflaufen lassen, in der Debatte um die Flüchtlinge das Wüten der CSU ignoriert. Aber etwas ist anders in dieser Krise als in den anderen: Da ist es bisher ums Beschwichtigen gegangen, um die Versicherung, dass die Sparkonten sicher seien zum Bespiel. Oder um Ermutigung: „Wir schaffen das“, ist Merkels berühmtester Satz aus der Flüchtlingskrise. Die Untergangswarnungen waren Sache ihrer Gegner. Nun haben sich die Vorzeichen umgedreht. Merkel bezeichnet die Lage als dramatisch. „Beschwichtigendes Wunschdenken oder populistisches Verharmlosen wäre nicht nur unrealistisch“, sagt sie. „Es wäre unverantwortlich.“ Ungefähr eine Stunde später setzt sie ihre Maske wieder auf. Für den Rest der Debatte bleibt ihr Gesichtsausdruck verborgen.