Berlin – Wolfgang Kubicki ist ein Mann fürs Risiko. Mit seinen 68 Jahren ist er nicht nur nah an der Covid-19-Risikogruppe; kaum ein FDP-Vertreter kann auch so beiläufig das Libertäre im Liberalen vertreten. In seinem natürlichen Lebensraum Talkshow ist der Norddeutsche dafür bekannt, die Runde mit hingenuschelten Hammersätzen zu überraschen, die auf den ersten Blick wie gesunder Menschenverstand wirken, auf den zweiten aber hoch problematisch sind.
So auch am Sonntag bei “Anne Will”: Beim weiteren Umgang mit der Corona-Pandemie müssen man jetzt auf die Eigenverantwortung der Menschen setzen, sagt der Bundestagsvizepräsident: “Wer Angst hat, soll zu Hause bleiben.”
Ja, ist klar. Wer zu einer Risikogruppe gehört, wer vor der unsichtbaren Gefahr kapituliert, wer einfach vorsichtig ist: drinnen bleiben. Alle anderen: macht, was ihr wollt. Wie unverantwortlich dieser Satz ist, zeigt sich erst beim zweiten Hinsehen: Was ist mit all jenen, die zwar Angst haben, aber dennoch täglich zur Arbeit müssen, im Krankenhaus, auf dem Bau, im Supermarkt, bei der Bahn? Was ist mit der Fürsorgepflicht des Staates?
Das Thema
“Deutschland macht sich locker – ist das Corona-Risiko beherrschbar?” ist die Leitfrage dieser Sendung. Und auch: Werden die richtigen Prioritäten gesetzt? Warum darf die Bundesliga wieder spielen, die Kitas dürfen aber nicht für alle Kinder öffnen?
Die Gäste
Aus der Politik kommt neben Kubicki die rheinland-pfälzische Ministerpräsidenten Malu Dreyer (SPD), aus der Wissenschaft der Theologe und ehemalige Vorsitzende des Ethikrats Peter Dabrock und die Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation Viola Priesemann (zugeschaltet aus Hannover), aus der Praxis Ute Teichert, die für die Beschäftigten der Gesundheitsämter spricht und schon vergangene Woche kritisiert hatte, dass die beschlossene Obergrenze von 50 Infizierten auf 100.000 Einwohner das Personal der Ämter überfordern könnte.
Die Debatte
Kamen die vergangene Woche beschlossenen Lockerungen zum richtigen Zeitpunkt - oder führen sie dazu, dass die Pandemie trotz rückläufiger Zahlen unbeherrschbar bleibt? Priesemann hätte es aus Sicht der Wissenschaftlerin vorgezogen, wenn die Beschränkungen noch ein paar Wochen bestanden hätten.
Denn je weniger Kontaktpersonen ein Infizierter hat, um so einfacher sind die Ansteckungsketten verfolgbar. Jetzt würde die Zahl der durchschnittlichen Kontaktpersonen von drei auf weit über zehn anstiegen - und die Arbeit extrem erschweren. Priesemann stellt klar: „Wenn wir wirklich alle Infektionsketten nachverfolgen könnten – das wäre ein wirklich stabiler Zustand.“
Priesemann sagt auch: Letztlich müssten die Politiker entscheiden, ob sie das für vertretbar halten, was wissenschaftlich geboten wäre - nämlich die Zahl der Kontaktpersonen noch eine gewisse Zeit möglichst klein zu halten. Wenn sie anders entscheiden, müssten sie möglicherweise mit einer unkontrollierbaren Entwicklung der Pandemie leben.
Sie sprach von “neuen Brandherden in diesem Waldbrand”, die möglichst schnell identifiziert werden müssten. Dazu müsste man flächendeckend testen.
Malu Dreyer verteidigt trotzdem die beschlossenen Lockerungen: „Das heißt ja nicht, dass wir nicht vorsichtig sind. Wir halten bei allen Lockerungsmaßnahmen extreme Hygienestandards ein, wir appellieren an die Menschen, dass sie sich auch daran halten und wir haben Ordnungskräfte, die das kontrollieren.“
Kubicki appelliert an die Eigenverantwortung und nuschelt gleich noch einen weiteren Hammersatz: “Wenn wir nicht glauben würden, dass Menschen eigenverantwortlich handeln, dann müssten wir ihnen das Wahlrecht entziehen.”
Sätze des Abends
“Das ist wie Einzelhaft”, Wolfgang Kubicki über seine demente Schwiegermutter, die im Pflegeheim sieben Wochen das Zimmer nicht verlassen durfte.
“Es ist total ungewöhnlich, dass man seine eigene Mutter nicht anfassen kann”, Malu Dreyer über den ersten Besuch bei ihrer Mutter im Seniorenheim seit vielen Wochen.
Da menschelte es ganz gehörig bei den beiden Spitzenpolitikern. Beide haben Angehörige in Heimen, die sie wochenlang nicht sehen durften. Dreyer beschreibt eindrücklich den ersten Besuch bei ihrer Mutter, die sie nur mit trennender Glasscheibe sehen durfte. Und sie fordert verpflichtende und kostenlose Tests für alle, die ihre Angehörigen in den Heimen besuchen möchten; nur so könne vermieden werden, dass das Virus von außen eingeschleppt werde.
Und was ist nun mit der Bundesliga?
Dreyer gibt einen Einblick in die Verhandlungen der Ministerpräsidentenrunde: Sie hätte dem Saisonstart nicht zugestimmt, wenn nicht parallel die anderen Lockerungen beschlossen worden wären. Gab es also eine Art Überbietungswettbewerb, was nun alles freigegeben werden muss?
Ute Teichert klärt für die Gesundheitsämter das Praktische: Dass nach positiven Fällen in Köln nur drei Teamangehörige, in Dresden aber die gesamte Mannschaft in Quarantäne geschickt wurden, habe mit unterschiedlichen Gegebenheiten zu tun; die Gesundheitsämter hätten das im Griff.
Peter Dabrock besitzt zwar eine Dauerkarte für die Dortmunder Südtribüne, findet es aber dennoch „verheerend“, dass der Profifußball wieder beginnen dürfte, noch bevor Besuche in Altenheimen wieder möglich seien. „Da kommt eine Vorzugsbehandlung zum Tragen, die dann in der aktuellen Phase der Pandemie-Bekämpfung dazu führt, dass die Solidarität bröckelt.“
Dabrock befürchtet, dass die Stimmung in dieser kritischen Phase kippt, dass die Verbreiter von Verschwörungsfantasien noch mehr Zulauf bekommen: „Wir müssen ganz offensiv darüber nachdenken, wie wir da rangehen, wenn so ein krudes Gebräu das Potenzial hat, die Extreme zusammenzuführen“.
Das könnte Sie auch interessieren:
Kubicki hat auch hier ein einfaches Rezept: “Mich nerven die Konserven der letzten Fußball-Weltmeisterschaften ganz mächtig.” Wenn am Wochenende zumindest im Fernsehen wieder gekickt werde, “trägt das ungemein zur Nervenberuhigung bei”.