Berlin – Söder hat sich für die drastische Situationsbeschreibung entschieden: Katastrophenfall. Am Mittwoch will der bayerische Ministerpräsident den erneut ausrufen für sein Bundesland, so wie im Frühjahr schon. „Es ist an einigen Stellen ein Schlendrian eingekehrt“, sagt er am Montag. „Wir müssen handeln.“ Also: Katastrophenfall, Ausgangsbeschränkungen, Wechselunterricht für Schüler ab der 8. Klasse, öffentliches Alkoholverbot an Silvester.
Die Corona-Infektionszahlen steigen zwar nicht mehr so drastisch wie noch vor ein paar Wochen. Aber richtig gesunken sind sie eben auch nicht. Es scheint nicht so, als ob der Teil-Lockdown vom November, der dann in den Dezember verlängert wurde, das Virus besonders beeindruckt hat. Von den 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen ist es noch ein Stück hin: Die Zahl lag Anfang der Woche bei 142.
Auch die Zahl der Toten ist immer noch hoch. Oft waren es in den vergangenen Tagen über 400 am Tag. Seit Montag sind auch Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern wieder als Risikogebiete eingestuft. Auch in Sachsen-Anhalt mit seinen bisher niedrigen Zahlen geht das Infektionsgeschehen nach oben.
Und im Kanzleramt, in Ministerien und Staatskanzleien steigt die Nervosität. „Das ist weit entfernt von der erhofften Trendwende“, sagt auch Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Daher sei es richtig und nötig, wenn einige Länder jetzt weitere Eindämmungsmaßnahmen vor allem bei mehr als 200 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen planen. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) verkündet, die Entwicklung der Zahlen bleibe „weit hinter unseren Erwartungen zurück“. Die bisher beschlossenen Maßnahmen, reichten offenkundig nicht aus, „um die zweite Infektionswelle wirklich zu brechen.“
Merkel wollte strengere Regeln
Merkel hatte die Beschränkungen schon vor Wochen strenger fassen wollen – sie scheiterte am Widerstand einiger Länder. Söder hat damals schon gedrängelt, das setzt er nun fort. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) will möglicherweise noch diese Woche über Verschärfungen entscheiden. Lange Monate schien das Virus sein Bundesland noch nicht so richtig entdeckt zu haben, mittlerweile gibt es dort die drastischsten Zuwachsraten bei den Infektionen. Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans, seit Monaten im vorsichtigen Corona-Team Söder/Merkel, bringt eine erneute Bund-Länder-Runde noch vor Weihnachten ins Gespräch. Die hatte das Kanzleramt eigentlich auch schon angesetzt, für den 15. Dezember. In der Bund-Länder-Beratung vor zehn Tagen flog der Termin aus dem Beschlusspapier. Nun soll sie nach RND-Informationen wohl doch stattfinden.
Söder sagt, er wolle niemand belehren. Aber es seien halt jetzt „gute Nerven, eine Menge Kraft und die Entschlossenheit, Dinge zu tun“ gefragt. Man dürfe sich nicht „aus Angst vor Entscheidungen drücken“ oder sich auf die Suche begeben nach dem letzten Haar in der Suppe oder dem letzten Schlupfloch“. Er habe sich ein bisschen mit Medizinhistorie beschäftigt und daraus die Erkenntnis gewonnen: „Die zweite Welle ist die heimtückischere.“ Sie werde oft unterschätzt und sei deshalb gefährlicher.
NRW will abwarten
Auch ohne die neue Konferenz ist ja schon einiges geschehen. Baden-Württembergs mit seinem grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann hat die Silvester-Regeln bereits vor einigen Tagen verschärft. Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow von der Linkspartei, hat auch die von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen an Weihnachten in Frage gestellt. Das rot-grün regierte Berlin, das von der bayerischen Landesregierung so gerne als Beispiel für Schludrigkeit angeführt wird, hat die Lockerungen gar nicht erst beschlossen.
Aus Nordrhein-Westfalen äußert sich abwartend Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU): „Dass Länder mit einem flächendeckend zusätzlich herausfordernden Infektionsgeschehen weitere Maßnahmen ergreifen, entspricht der Logik des gemeinsamen Beschlusses der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin“, sagt er dem RND. „Sollte sich die Gesamtlage nicht zeitnah verbessern, erscheint auch bundesweit ein noch restriktiveres Vorgehen notwendig, um die Zahl der Neuinfektionen überall deutlicher zu reduzieren.“
SPD in Teilen genervt
Und in den Staatskanzleien der SPD-geführten Bundesländer ist man sogar richtiggehend genervt: „Die bayerischen Corona-Zahlen sind seit Monaten mit am schlechtesten, und trotzdem versucht der Ministerpräsident immer noch, den großen Zampano zu geben“, heißt es in einer nördlichen Landeshauptstadt. „Statt nur die anderen zu belehren, sollte Söder endlich seinen Job machen, und in Bayern für Ordnung sorgen.“
In einer anderen SPD-geführten Landesregierung nennt man es „Aktionismus“, dass Söder am Nikolaus-Tag eine Sondersitzung des Kabinetts einberufen habe, um Dinge zu beschließen, die in vielen anderen Bundesländern bei hohen Infektionsraten bereits gälten. „Das hätte Herr Söder alles längst haben und beschließen können“, heißt es. Ein weiteres Bund-Länder-Treffen halten die meisten SPD-Länder eigentlich für überflüssig.
Und dann sind da noch die Wissenschaftler, auf die Merkel sich in ihrer Einschätzung der Lage stützt. Und für die sind wohl auch Söders Schritte noch nicht weitgehend genug.
Der Teil-Lockdown sei einen Versuch wert gewesen, sagt die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „Seit Ende November wissen wir aber, dass es leider nicht gereicht hat.“ Mit den derzeit geltenden Maßnahmen blieben die Zahlen sehr wahrscheinlich auf einem ähnlichen Niveau. Ohne Verhaltensänderungen gebe es sehr wahrscheinlich keinen deutlichen Rückgang. Und am besten sei da ein kurzer, richtig konsequenter Lockdown. „Wenn man die Fallzahlen schnell senken will, sollte man an allen Schrauben deutlich drehen – damit man sie danach wieder lockern kann“, sagt Priesemann. Viele Länder, darunter beispielsweise Frankreich,hätten sehr klar gezeigt, dass man die Fallzahlen durch entschiedeneMaßnahmen zügig senken kann.
Kurze, harte Maßnahmen?
Der Mathematiker und Physiker Jan Fuhrmann, der am Forschungszentrum Jülich Szenarien zum Pandemieverlauf erstellt, verweist auf das Winterwetter. Die Menschen hielten sich in dieser Zeit noch mehr in geschlossenen Räumen auf, wo die Kontakte tendenziell gefährlicher sind. „Diese Verlagerung nach drinnen kann dazu führen, dass die trotz aller Einschränkungen verbleibenden Kontakte infektionswirksamer sind als noch vor wenigen Wochen“, erklärt der Mathematiker.
Auch er plädiert für eine Strategie mit kurzen, aber harten Maßnahmen aus – und zwar sogar mehrfach. Ein bis zwei zweiwöchige Shutdown-Perioden im Winter und Frühjahr könnten als „Wellenbrecher“ wirken, hat fuhrmann mit seinem Team errechnet.
Selbst Christian Lindner schwenkt ein
Offenbar haben solche Überlegungen mittlerweile auch FDP-Chef Christian Lindner erreicht, der die Beschränkungen zuletzt meist scharf kritisiert hat. Wenn es keinen speziellen Schutzschirm für Risikogruppen gebe, den er immer wieder gefordert hat, sei ein harter Drei-Woche-Lockdown vermutlich die Alternative. Das mit dem Schutzschirm könnte schwierig werden: In der Bundesregierung heißt es, ein Drittel der Bevölkerung gehöre wegen Alter, Krankheit oder Behinderung einer Risikogruppe an – so viele Leute abzusondern, sei quasi unmöglich.
Thüringens Ministerpräsident Ramelow widerspricht einem Total-Lockdown: Wenn alles dicht gemacht werde, seien die Infektionen nicht weg. „Wir sollten uns stattdessen auf die Bereiche konzentrieren, in denen Infizierte mit Symptomen auftreten – wie Alten- und Pflegeheime. Da braucht es eine deutliche Anstrengung“, sagte er dem RND. Infizierte sollten in Altenheimen in getrennten Abteilungen untergebracht werden, statt sie an Krankenhäuser weiterzuleiten. Die Personalfrage bleibt dabei unbeantwortet.
„Weihnachten ist das wichtigste Fest des Jahres“
Die Ministerpräsidenten werden also wohl in der Woche vor Weihnachten zu einer erneuten Beratung zusammen kommen – auch wenn manche Teilnehmer davon genervt sein werden.
Gut möglich, dass es dann zu einem gehörigen Weihnachsstreit kommen wird. „Weihnachten ist das wichtigste Fest des Jahres“, sagt Söder versonnen. Wenn man an diesen Tagen alleine zuhause bleiben müsse, würde das “viele Menschen noch zusätzlich belasten“. Corona hin, Corona her. Zusammensein, wenigstens zu zehnt. „Für diese drei Tage ist das machbar“, sagt Söder. Und da ist kurz mal nicht Katastrophe angesagt.